Über Bord
erkrankte Andersen an Leukämie und starb zehn Jahre später in Bad Salzuflen; über seine Familie war nichts vermerkt. Es fand sich außerdem ein Foto, auf dem ein älterer, glatzköpfiger Mann als Bösewicht posierte.
Jetzt bin ich auch nicht viel klüger als zuvor, dachte Ellen. Am wenigsten gefiel ihr die Todesursache. Gleich morgen wollte sie sich von Amalia einen Termin für eine Vorsorgeuntersuchung geben lassen; vielleicht konnte ihre Chefin beurteilen, ob durch die erbliche Belastung ein erhöhtes Risiko bestünde.
Ihre Tochter sah sie an diesem Tag gar nicht mehr. Amalia hatte sich lange im Badezimmer und dann im Bett verschanzt, wo sie stundenlang mit ihrer Schwester und ihren Freundinnen telefonierte. Auch Hildegard wollte nur noch ihre Ruhe haben, hatte das Licht ausgeschaltet, saß am offenen Fenster und betrachtete andächtig den hauchzarten Halbmond.
Ellen überlegte, ob sie bereits heute noch mit den Geschwistern sprechen sollte, hatte aber keine Kraft, geschweige denn Lust dazu; vorerst wollte sie sich ein eigenes Urteil über die Enthüllungen ihrer Mutter bilden und ein wenig zu sich selbst finden. Abgesehen davon konnten ja die anderen zuerst anrufen.
Eine halbe Woche verstrich, ohne dass sich die Brüder oder Schwestern bei ihr meldeten; Ellen war es recht so. Als das Telefon endlich läutete, nahm sie nur zögernd ab. Die Handynummer war ihr unbekannt.
»Hallo, hier ist Gerd. Du wirst dich fragen, warum ich jetzt erst anrufe, aber ich hatte viel um die Ohren und wollte außerdem über unsere gemeinsamen Verwandten nachdenken. Ellen, es tut mir unendlich leid, dass ich derartig viel Staub aufgewirbelt habe. Ich habe nicht ahnen können, was ich da heraufbeschwöre, und auf keinen Fall wollte ich dir und deiner Mutter wehtun!«
»Ist ja gut«, sagte Ellen. »Du kannst am wenigsten etwas dafür! Niemand nimmt es dir krumm, dass du etwas über deine Abstammung erfahren wolltest. Mir geht es jetzt genauso, aber auch mein Papa ist tot. Ob er weitere Kinder hatte, weiß ich nicht. Für eine Detektei fehlt mir im Gegensatz zu dir das nötige Kleingeld.«
Gerd schwieg betreten. Dann setzte er erneut an.
»Mir ist heute eine Idee gekommen, wie ich euch ein klein wenig entschädigen kann. Keine Angst, bestimmt nicht mit einem Barscheck!«
Nun grinste Ellen ein wenig, denn es wäre schon kurios gewesen, wenn Gerd Dornfeld genau wie sein Erzeuger anstehende Probleme finanziell geregelt und ihr am Ende einen Detektiv spendiert hätte. Aber von dieser Eigenschaft seines Vaters konnte er ja bis jetzt nichts wissen.
»Schieß los«, sagte sie. Gerd hatte eine angenehme Stimme, und sie war gespannt, was er ihr anbieten wollte.
»Gleich nach unserem Treffen gab es auch für Ortrud und mich große Aufregungen innerhalb der Familie«, sagte er. »Ich will gar nicht erst um den heißen Brei herumreden, aber unser Sohn macht uns plötzlich Sorgen. In der letzten Zeit hatten wir fast jedes Jahr eine Kreuzfahrt unternommen, aber diesmal wollten wir nicht zu zweit, sondern zu vier Personen starten. Es sollte eine Überraschung und Belohnung für den Jungen werden, denn er hat kürzlich sein Examen mit Glanz und Gloria bestanden.«
»Das wundert mich ein wenig«, sagte Ellen. »Meine Töchter hätten absolut keine Lust, mit mir in den Urlaub zu fahren.«
»Prinzipiell trifft das wohl für die meisten erwachsenen Kinder zu«, sagte Gerd. »Aber Ortrud hat so oft von der letzten Reise geschwärmt, dass Ben meinte, er würde alles dafür geben, wenn er auch einmal einen derartigen Luxus erleben könnte. Nun ja, die Reise ist bereits gebucht und bezahlt, doch plötzlich hat ihm seine Freundin den Laufpass gegeben.«
»Such is life«, sagte Ellen, die von solchen Geschichten kaum zu erschüttern war.
»Der Junge war völlig verstört, so wie wir ihn noch nie erlebt haben, und ist Hals über Kopf nach L.A. geflogen, wo er bei seinem besten Freund Trost sucht. Also, um endlich zur Sache zu kommen: Ich möchte dich und deine Mutter bitten, uns auf der Reise durchs Mittelmeer zu begleiten, die MS RENA ist ein richtig nobles Schiff, und die Kabine ist ja bereits bezahlt. Ich würde euch gern näher kennenlernen, aber meine Einladung ist mir jetzt fast etwas peinlich, zumal sie so kurzfristig ist.«
»Braucht es nicht zu sein, in einem solchen Fall bin ich gern der Lückenbüßer«, sagte Ellen, ohne zu zögern. »Aber ich weiß nicht recht, was Mutter davon hält! – Kriegt man das Geld denn nicht zurück, wenn
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