Über Bord
waren? Oder waren diese Neuigkeiten für die Enkelgeneration bei weitem nicht so verstörend wie für Ellen selbst?
Das Frühstück war längst fertig, als Lydia kurz vor elf aus den Federn kroch. »Warum hast du mich nicht geweckt?«, fragte sie. »Um zwölf geht mein Zug!«
»Den kriegen wir noch, wenn du dich beeilst«, sagte Ellen. »Mama will vorläufig nicht in Erscheinung treten, ich kann dir ja später berichten, was sie gebeichtet hat.«
Kurz nach eins war Ellen wieder vom Bahnhof zurück und servierte ihrer Mutter einen starken Kaffee.
»Kind, das ist zwar lieb gemeint, aber ich will mich zuerst anziehen und mir wenigstens die Zähne putzen«, sagte sie. Durch weitere Verzögerungstaktiken gelang es ihr, das klärende Gespräch möglichst lange hinauszuschieben, doch irgendwann konnte sie nicht mehr ausweichen.
»Lydia war noch ein Baby, als ich dahinterkam, dass Rudolf eine Geliebte hatte. Selbstverständlich gab es von da an heftige Auseinandersetzungen. Na, das kennst du ja aus eigener Erfahrung! Wir stritten uns täglich, allerdings ohne laut zu werden, schafften es also ganz gut, dass die Kinder nichts merkten. Rudolf behauptete, auch mir könne es jederzeit passieren, dass ich mich in einen anderen verliebte. In einem solchen Fall würde er es mir selbstverständlich verzeihen und vielleicht sogar billigen, dass ich schwach würde. – Das sei reine Theorie, widersprach ich, eine Mutter von vier kleinen Kindern werde fast nie heftig umworben und gerate gar nicht erst in Versuchung. Ganz abgesehen davon, dass kinderreiche Frauen fast nie berufstätig wären und gar keine Chance hätten, interessante Männer kennenzulernen. Und ich behauptete zudem, ich würde auch bei einem hinreißenden Verehrer meine Sehnsucht nach Erfüllung unterdrücken und auf keinen Fall meine Verantwortung als Ehefrau und Mutter vergessen.« – Hildegard stöhnte auf.
Ellen fixierte ihre Mutter unentwegt. Sie war bis zum Äußersten gespannt, wie es jetzt weiterging.
»Schließlich trug man mir zu, dass Rudolfs Freundin schwanger war. Ich wurde fast wahnsinnig bei diesem Gedanken und wollte mich scheiden lassen, was Rudolf aber ablehnte. Er wiederum warf mir vor, ich sei eine Heuchlerin und Scheinheilige. Kein Mann könne treu bleiben, wenn ihn ein schönes junges Mädchen in Versuchung führe. Sogar ich mit meinen spießigen Moralvorstellungen würde schwach, wenn sich bloß eine verlockende Gelegenheit ergäbe. Übrigens, Ellen, wenn du die ganze Wahrheit erfahren hast, wirst du begreifen, warum ich keine hohe Meinung von den Männern habe. – Den Kaffee vertrage ich jetzt nicht, kannst du mir stattdessen einen Tee machen?«
Natürlich eilte Ellen sofort in die Küche. Immer noch hatte sie keine Ahnung, ob am Ende der Pfarrer, der Hausarzt oder ein Lehrer ihr Papa war.
Hildegard trank den Kräutertee in kleinen Schlucken. Schließlich ging es mit der Generalbeichte weiter.
»Eines Tages übergab mir Rudolf ein Theaterbillet. Leider müsse er am Wochenende zu einer Tagung, sagte er; ein befreundeter Journalist hätte ihm eine Pressekarte überlassen, und da habe er gleich an mich gedacht. Ich sei doch früher so gern ins Theater gegangen, und die Kinder seien jetzt alt genug, um an diesem Abend zwei Stunden allein zu bleiben. Matthias und Christa könnten sich – wenn nötig – um den unruhigen Holger kümmern. Lydia hatte sowieso einen gesunden, tiefen Schlaf.
Ehrlich gesagt, so richtig freuen konnte ich mich nicht. Wenn Rudolf verreisen wollte, dann sicherlich in Begleitung seiner schwangeren Freundin. Doch trotz meiner Bedenken ging ich ein paar Tage später in die Vorstellung, ja es machte mir sogar ein wenig Freude, endlich wieder ein schickes Kleid anzuziehen.
Man gab eine moderne Komödie, die ich nicht besonders lustig fand, die Schauspieler stammten auch nicht gerade vom Wiener Burgtheater. Allerdings war der Hauptdarsteller ein schöner Mann und der Einzige, der ein wenig komisch agierte. Ich muss gestehen, dass er mir auf Anhieb gefiel. Doch ich gehörte nun wirklich nicht mehr zu den Teenagern, die am Ende der Vorstellung für ein Autogramm Schlange stehen. Ich ließ mich allerdings dazu verleiten, im Foyer noch ein Glas Sekt mit dem Journalisten zu trinken, dem ich meine Eintrittskarte verdankte. Zu meiner Freude gesellte sich irgendwann der bewusste Schauspieler dazu, die beiden Männer kannten sich anscheinend, waren witzig, alberten, scherzten, machten mir Komplimente, und ich trank mehr als nur
Weitere Kostenlose Bücher