Über Bord
man die Reise storniert?«
»Bei der Vorlage eines ärztlichen Attests würde eine Reiserücktrittsversicherung sicherlich einspringen, aber damit können wir ja nicht dienen. Also, wie ist es mit euch?«
Ellen versprach, mit Hildegard zu reden und noch im Laufe des Abends zurückzurufen. Am liebsten würde ich eigentlich nur mit Gerd, aber ohne meine alte Mutter verreisen, dachte sie, da bin ich meinen Töchtern nicht unähnlich.
»Was soll der Unsinn«, sagte Hildegard entrüstet. »Auf ein Schiff bringen mich keine zehn Pferde! Der Mensch ist nicht dafür geschaffen, sich auf dem Wasser, in der Luft, im ewigen Eis oder der Wüste herumzutreiben. Außerdem werde ich seekrank, ich habe keine vornehmen Kleider und im September ist die Holundermarmelade an der Reihe. Du kannst dir den Mund fusselig reden, ich bleibe, wo ich bin, und damit basta. Nimm doch das Kind mit, wenn das zweite Bett nicht leerstehen soll!«
Amalia hörte sich den Vorschlag von Mutter und Großmutter äußerst skeptisch an. Sie hatte gerade Zoff mit Uwe und wollte ihm gern eins auswischen – ein Urlaub ohne ihn wäre allerdings eine harte Strafe. Andererseits konnte sie sich in diesem Jahr überhaupt keine Reise leisten, die Gelegenheit für eine kostenlose und überaus komfortable Kreuzfahrt käme wohl niemals wieder.
»Wissen die denn schon, dass Oma nicht mitkommt? Vielleicht wollen die mich gar nicht dabeihaben, schließlich bin ich keine feine Lady!«
Darüber hatte Ellen noch nicht nachgedacht. Die Einladung galt wohl hauptsächlich der alten Hildegard, war es nicht etwas frech, wenn sie stattdessen ihr Küken ins Spiel brachte?
»Ich rufe einfach mal an, dann werden wir ja sehen…«, sagte sie etwas verunsichert.
Gerd Dornfeld war tatsächlich überrascht, aber viel zu höflich, um die neue Variante einfach abzulehnen. Natürlich bedauerte er, dass Hildegard nicht mit von der Partie sein wolle, aber er könne es verstehen. Und selbstverständlich sei auch Amalia herzlich willkommen, behauptete er, es freue ihn sehr, dass sie mit einer so viel älteren Gruppe übers Meer schippern wolle. Allerdings müsse die junge Dame davon ausgehen, dass auch die anderen Passagiere eher im Rentenalter seien und das gesamte Programm darauf abgestellt sei. Insgeheim wunderte er sich, denn Ellen hatte ja erst kürzlich behauptet, dass ihre Töchter unter keinen Umständen mit ihrer Mutter Urlaub machen wollten.
Amalia musste das Ganze erst einmal auf die Reihe bekommen. Die Reise begann bereits am dritten September mit einem Flug nach Lissabon, ob sie so kurzfristig überhaupt Urlaub bekam? Und was zog man an, wenn man mit reichen alten Knackern unterwegs war? Doch angesichts der Aussicht auf einen Liegestuhl an Deck, wo man dank Sonne und Wind appetitlich braun wurde, ließ sie ihre Bedenken über Bord gehen. Als sie etwas später mit Katja telefonierte, war ihre Freundin Feuer und Flamme. An Bord eines schwimmenden Fünfsternehotels würden sich sicherlich Millionäre tummeln, die nach einer wesentlich jüngeren Ehefrau Ausschau hielten.
»Auf einen Sugar Daddy bin ich nicht scharf«, sagte Amalia. »Außerdem habe ich den Verdacht, dass die große Masse aus Ehepaaren besteht, die ihre diamantene Hochzeit in Rollstühlen feiern. Wir sind aber fast jeden Tag irgendwo an Land, dann mögen die Senioren in Kunst und Architektur schwelgen, so viel sie wollen, ich bin dann mal weg und auf eigene Faust unterwegs. Außerdem soll das Essen große Klasse sein – was will ich mehr?«
»Der Sex wird dir fehlen«, bemerkte Katja trocken.
»Auf einem Schiff gibt es jede Menge geile Matrosen… oder wer weiß, vielleicht werde ich von einem heißen Piraten entführt?«, bemerkte Amalia, und sie kicherten beide wie Teenager.
Inzwischen hatte Ellen erst ihre Geschwister, dann ihre beiden Töchter über die überraschende Beichte ihrer Großmutter informiert.
»Unsere Oma – und ein One-Night-Stand! Ist doch nicht zu fassen!«, sagte Clärchen empört. Vor allem Amalia nahm es gelassen hin, dass sie keine echten Tunkels waren und stattdessen einen Schauspieler zum Großvater hatten; ein Künstler unter den Vorfahren war letztlich interessanter als ein Fabrikant.
»Jetzt erst verstehe ich, warum unsere Mutter keine gute Meinung von den Männern hat«, meinte Christa. »Aber an ihrem Ältesten hat sie sich dafür desto mehr festgehalten. Lydia hat mir übrigens gesteckt, dass es auch bei Holger kriselt. Er will seine fürsorgliche Maureen verlassen –
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