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Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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ein Glas. Schließlich sah ich auf die Uhr und wollte schleunigst den Bus nehmen, um nach Hause zu fahren, der Journalist hatte sich bereits verabschiedet.«
    Ellen begann zu ahnen, dass ihr Vater ein Schmierenkomödiant war. Sie hielt fast den Atem an, als ihre Mutter tapfer weitererzählte.
    »Selbstverständlich bringe er mich nach Hause, sagte der Schauspieler. Er nehme sowieso ein Taxi. Es gehe doch nicht an, dass eine schöne Frau ganz allein im Dunkeln unterwegs sei. Ich willigte ein, natürlich war es mir lieber, im Taxi vor die Haustür gefahren zu werden. Wahrscheinlich war mir auch der ungewohnte Sekt leicht zu Kopf gestiegen, denn wir sangen im Auto gemeinsam Mein kleiner grüner Kaktus und wurden immer ausgelassener. Ich fühlte mich jung und gar nicht mehr so müde wie sonst um diese Zeit. Vor unserem Haus bat der Schauspieler, ihm die Schallplatte der Comedian Harmonists vorzuspielen, er habe die Songs seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört. Also schickte er das Taxi fort, wir schlichen hinein, um kein Kind aufzuwecken, tranken noch ein Gläschen Wein, hörten Musik und tanzten. Und schließlich küssten wir uns.«
    »War das der Anfang einer großen Liebe?«, fragte Ellen.
    »Ich muss dich enttäuschen«, sagte Hildegard trocken. »Es war bereits das Ende. Zwar landete er irgendwann in meinem Bett, aber nur für wenige Stunden. Dann musste er fort, denn er gehörte ja zum Ensemble eines Tourneetheaters, das am nächsten Tag in einer anderen Stadt spielen sollte. Hinterher erschien mir alles wie ein schöner Traum, aus dem es einige Zeit später ein jähes Erwachen gab.«
    »Du warst schwanger«, rief Ellen, »und wusstest nicht genau, von wem.«
    »Das war überhaupt keine Frage, denn mein Ehemann hatte mich ziemlich vernachlässigt. Ein viel größeres Problem war, dass ich eigentlich schon genug Kinder hatte. Aber da Rudolf gerade zum fünften Mal Vater wurde, entwickelte ich eine ausgeprägte Trotzhaltung. Wie du mir, so ich dir, dachte ich. Nach den ersten Schwangerschaftsmonaten spürte ich jedoch, dass ich dich genauso lieben würde wie deine Geschwister, ja sogar noch mehr.«
    »Wie heißt denn der Schauspieler? Ist es am Ende ein Prominenter, der in jedem zweiten Fernsehfilm auftaucht?«, fragte Ellen aufgeregt.
    »Er ist vor etwa einem Jahr gestorben, er war etwas älter als ich. Ich habe ihn nie wiedergesehen, aber seine Karriere in den Medien verfolgt. Leider ist er kein Star geworden, aber hin und wieder entdeckte ich ihn in einer Nebenrolle auf dem Bildschirm. Du kannst ja mal im Internet seinen Namen eingeben, ich verstehe davon nichts.«
    Hildegard öffnete eine Kommodenschublade und fand auf Anhieb, was sie suchte: eine Mappe mit Zeitungsausschnitten und einer Künstlerpostkarte, die sie ihrer Tochter überreichte. Ellen betrachtete ratlos ein jugendliches Männerporträt und las: Carl Siegfried Andersen. Der Name sagte ihr nichts, das Gesicht war ihr völlig fremd. Doch auf einmal wurde ihr klar, warum sie den Drang verspürt hatte, als Heldin auf einer Bühne zu stehen. Und warum ihre Mutter ihr das so vehement ausgeredet hatte.
    Plötzlich hörte sie auf der Straße einen Wagen, schaute zum Fenster hinaus und sah Amalia aus Uwes Auto steigen. Allerdings schnappte ihre Tochter sich bloß den Rucksack und knallte die Autotür zu, ohne sich von Uwe mit dem üblichen Kuss zu verabschieden. Ellen bat ihre Mutter um eine Unterbrechung und lief die Treppe hinunter.
    »Ich habe dich erst am Abend erwartet«, sagte sie. »Ist was passiert?«
    »Der Uwe spinnt doch!«, sagte Amalia gereizt.
    Zum Glück war noch etwas von Hildegards Tee übrig, den Ellen ihrer Tochter vorsetzen konnte. Nach und nach erfuhr sie, dass es bei Clärchen eine sehr lustige Party gegeben habe.
    »Fast nur Künstler«, sagte Amalia. »Irgendwie passe ich besser zu denen als zu den stoffeligen Typen aus unserem Kaff…«
    »Und Uwe passt natürlich nicht«, sagte Ellen.
    »Der ist so was von eifersüchtig! In Köln gab es überhaupt keinen Grund für seine peinliche Szene. Am liebsten hätte ich ihn sofort nach Hause geschickt.«
    Amalia fing an zu heulen. Mit ihr kann ich heute kein vernünftiges Wort reden, dachte Ellen. Bestimmt hat sie heftig mit einem dieser Künstler geflirtet, und Uwe fühlte sich als Underdog. Der Arme tat ihr etwas leid, denn auf seine Art war er ein guter Junge. Wohin man schaute – Liebesleid und Ehebruch, Lügen und Intrigen, Sodom und Gomorrha, sagte sie sich und legte den Arm um ihre

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