Über Bord
das sollte man unserer Mama aber erst sagen, wenn es tatsächlich so weit ist.«
Die mitfühlende Christa fragte auch als Einzige, in welcher Verfassung sich die Mutter jetzt befinde – ob ihr eine Last von der Seele genommen oder eher das Gegenteil der Fall sei? Ellen wusste es auch nicht, berichtete aber, dass Hildegard sich von heute auf morgen das Seufzen und Stöhnen angewöhnt habe.
»Immer wenn sie im Garten oder in der Küche arbeitet, geht es los. Ich weiß nicht genau, ob ihr wirklich alles zu viel wird, ob sie sich plötzlich als Greisin fühlt oder bloß mein Mitleid erwecken will. Jedenfalls geht mir dieser wehleidige oder anklagende Ton durch Mark und Bein.«
Die Vorbereitungen für die Kreuzfahrt ließen sich gut an. Alles schien zu klappen, sowohl Ellen als auch Amalia konnten sich für 14 Tage freinehmen – gegen das Versprechen, im nächsten Jahr etwas früher zu planen. Täglich beredeten sie die nötige Garderobe, aber sowohl Mutter als auch Tochter konnten sich keine neuen Sachen leisten. Amalia besaß zwar eine Fülle an billigen Sommerfähnchen und modischen Eintagsfliegen, doch alles passte eher in die Disko als auf eine Reise mit gesetzten Wohlstandsbürgern. Deswegen kam sie auf die geniale Idee, ihre Freundinnen um Leihgaben anzuschnorren. Die meisten konnten diesbezüglich nicht viel bieten, einzig Katja hatte wohlhabende Eltern.
»Meine Alten sind genau in dieser Zeit mit Studiosus unterwegs. Natürlich nimmt meine Mutter dafür keine stinkfeinen Sachen mit, sie wird es also gar nicht merken, wenn ihre Roben wieder gebügelt im Schrank hängen. Außerdem hat sie Größe 38, müsste dir passen.«
Ellen hatte ebenfalls Glück; ihre Schwägerin Brigitte konnte mit einer großen Auswahl an guten Stücken dienen und half gern aus.
Ein weiteres Problem bestand darin, dass es Hildegard nicht mehr gewohnt war, längere Zeit allein zu bleiben. Auf jeden Fall wollte Ellen dafür sorgen, dass sowohl die Tiefkühltruhe als auch der Vorratsschrank gut gefüllt waren. Am liebsten wäre es ihr zwar gewesen, wenn ihre Mutter in der bewussten Zeitspanne bei ihrem Lieblingssohn Quartier bezogen hätte, aber Hildegard weigerte sich standhaft. In ihrem Alter sollten die Kinder gefälligst ihre Mutter besuchen und nicht umgekehrt. Zum Glück versprach Matthias, täglich bei der Mama anzurufen und sie im Notfall sofort abzuholen.
Am Wochenende wollte Ellen eigentlich allerhand erledigen – einiges musste nachgeholt, anderes im Voraus getan werden. Sie saß jedoch tatenlos im Garten, betrachtete die unterschiedliche Färbung der sommerlichen Vegetation und fühlte sich beinahe jung und ein bisschen glücklich. Fast immer war sie rastlos tätig gewesen, ihrer Mutter nicht unähnlich, auch im Urlaub war sie seit Jahren damit beschäftigt, liegengebliebene Aufgaben aufzuarbeiten. Auf einmal winkten zwei entspannte Ferienwochen, und sie begann schon jetzt, sich zu freuen. Wie lange hatte sie ihr latentes Fernweh verdrängen müssen, vor allem, wenn ihre Geschwister von interessanten Reisen berichteten. Noch nicht einmal für den eigenen Garten in seinem sommerlichen Liebreiz hatte sie Zeit und Muße gefunden. Wie prächtig leuchteten die gelben und orangefarbenen Blüten der Kapuzinerkresse, wie edel geformt waren ihre achteckigen Blätter, die je nach Sonneneinfall bläulich oder hellgrün schimmerten! Hellrosa Hortensien, samtrote Rosen, dunkelblauer Eisenhut blühten neben Tomatenpflanzen und Salat. Hildegard war im Grunde eine verkannte Künstlerin, die allerdings in diesem Moment Ellens meditative Stimmung durch ein markerschütterndes Stöhnen unterbrach.
»Mutter, was ist los? Tut dir etwas weh?«
»Wieso? Weil ich mal einen Laut von mir gebe? Leider werde ich es nicht mehr erleben, dass du als alte Frau im Gebüsch herumkriechst und die Brennnesseln ausrottest. Von oben werde ich aber hören, wie kläglich du dann herumjaulst!«
Ein Hilferuf? Ein Vorwurf? Ellen erhob sich träge.
»Setz dich mal in den Schatten, Mama. Und keine Angst, ich kann Kornblumen von Giersch, Quecken und Disteln unterscheiden, wenn ich dich jetzt mal ablöse.«
Mutter und Tochter tauschten die Plätze, und Ellen ertappte sich, dass ihr ebenfalls ein mitleiderregendes Autsch entfuhr, als sie versehentlich den Zweig einer wildwuchernden Heckenrose in die Finger bekam.
»Keine Rose ohne Dornen«, murmelte ihre liebe Mutter mit sichtlicher Schadenfreude und bettete die dünnen Beine auf einen zweiten Stuhl. »Das tut ja
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