Über Bord
Nachbar gerade aufblätterte, und ließ den Blick auch sonst überallhin schweifen. Vor ihr saßen zwei junge Frauen, die sich pausenlos unterhielten; die eine war gut im Profil zu sehen, ihre riesige Nase zierte ein Piercing. Wie kann man einen solchen Zinken auch noch dekorieren!, dachte Ellen, doch die andere war auch nicht besser, denn aus ihrem tiefen Rückenausschnitt wuchs ein tätowierter Kaktus. Gut, dass Amalia diese Mode nicht mitmachte.
Schließlich nickte sie auch ein und wurde erst kurz vor der Landung wieder wach. Mit dem Bus ging es nun vom Flugplatz zum Hafen. Netterweise überließen Gerd und Ortrud ihren Gästen die Fensterplätze, sie seien schon oft in der portugiesischen Hauptstadt gewesen, diese Fahrt sei nichts Neues für sie.
»Du darfst es mir nicht krummnehmen«, flüsterte Gerd Ellen zu, »dass wir im Gegensatz zu euch eine Suite mit Balkon auf dem obersten Deck haben. Da Ortrud das Rauchen nicht lassen will, kann sie so noch im Nachthemd draußen qualmen.«
Als sie endlich ihr Ziel erreicht hatten, lauerte ein Fotograf vor der Gangway, und besonders die weiblichen Gäste verfluchten den Wind wegen ihrer Frisur. Kaum waren alle Passagiere zu ihren Kabinen geleitet worden, ertönte aus dem Lautsprecher der Alarm für die obligaten Sicherheitsübungen. Noch bevor sie ihre Koffer ausgepackt hatten, mussten Ellen und Amalia die orangeroten Schwimmwesten anlegen und sich mit den andern Passagieren bei den Rettungsbooten versammeln. Danach fanden sie auf dem Schreibtisch ein Programm für den nächsten Tag und eine Kleiderempfehlung für den heutigen Abend. Zum Glück brauchte man am Beginn der Reise nicht gleich in Abendroben zu erscheinen.
Beim Essen saß man an einem Vierertisch zusammen, Gerd bestellte zwar eine Flasche Wein, trank aber selbst fast nur Mineralwasser. Erst als es dunkel wurde, legte das Schiff ab. Zu viert standen sie erwartungsvoll an der Reling, als nach dreimaligem, mächtigem Tuten die Leinen gelöst wurden, eine Blaskapelle spielte und die Fahrt begann. Sanft glitt das Schiff unter der Riesenbrücke hindurch über den breiten Tejo, vorbei am Belem-Turm und dem Kolumbus-Denkmal, bis es das offene Meer erreichte. Amalia war hingerissen, Ellen so überwältigt von Schönheit, Kitsch, Klischee und Glück, dass sie Gerd mit Tränen in den Augen um den Hals fiel.
»Danke, danke, danke!«, flüsterte sie. »Das ist ja schöner als im Fernsehen!«
Gerd lächelte gerührt und erfreut, dass er bei ihr etwas wiedergutmachen konnte.
Der nächste Tag bot reichlich Gelegenheit, das Schiff zu erkunden, denn es wurde kein Hafen angelaufen. Bereits beim Frühstück versuchte Amalia, möglichst viele Passagiere unter die Lupe zu nehmen, ob nicht vielleicht doch jemand ihres Alters dabei war. Jungen Menschen begegnete sie zwar auf Schritt und Tritt, aber sie gehörten stets zum Personal. Schließlich entdeckte sie doch noch eine Viererbande, die ganz anders wirkte – jung, schön, lustig und sehr locker. Es dauerte nicht lange, bis sie herausgefunden hatte, dass es sich um spanische Tänzer handelte, die noch am selben Abend einen Auftritt haben würden.
Auch Ellen hielt Ausschau. Sie hatte mit Gerd und Ortrud vereinbart, nicht unbedingt gemeinsam zu frühstücken, damit alle nach Belieben ausschlafen konnten. Doch Ellen hatte zu große Angst, etwas zu verpassen. Sie hatte gerade ihre letzte Tasse Kaffee möglichst langsam ausgetrunken, als die Reisekameraden erschienen. Ortrud im maritimen Outfit, Gerd in Jeans und olivgrünem Pullover.
Offenbar hatte sich das Ehepaar gestritten. Ellen bemerkte sofort, dass sie sich weder ansahen, noch miteinander sprachen. Schon nach wenigen Minuten stand Ortrud wieder auf und ging nach draußen an die frische Luft. Offenbar wollte sie nicht zu deren Verbesserung beitragen.
»Als erste Tat am frühen Morgen muss sie leider rauchen«, sagte Gerd entschuldigend. Ellen fragte ihn nach früheren Kreuzfahrten, und er erzählte gern, in welchen Ländern sie schon gewesen waren.
»Von mir aus müsste es kein Schiff sein«, meinte er, »aber Ortrud setzt sich meistens durch. Sie liebt die noble Atmosphäre, sie lernt auch jedes Mal Leute kennen, mit denen sie sich ausgezeichnet versteht. Vielleicht erhofft sie sich sogar neue Kunden.«
»Und du?«, fragte Ellen.
»Ich? Eher nicht, ich will meist nur meine Ruhe. Sieh mal, da hinten steht unser Kapitän!«
»Woran erkennst du ihn?«, fragte Ellen.
»Ich habe schon auf früheren Reisen mit ihm
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