Über Bord
ausgerupft: Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich. Was für ein Traum! Ellen war zwar entflammt wie ein Teenager, aber längst in einem Alter, wo man die Vernunft nicht völlig beiseiteschiebt. Sie sah nicht mehr in jedem Vogel, jeder Wolke oder Blume ein Liebesorakel, sie wusste genau, dass Gerd ein verheirateter Mann war.
Vom Deck aus schaute sie zu, wie das Ehepaar Dornfeld die Gangway hinunterschritt. Kaum hatte Ortrud festen Boden unter den Füßen, hakte sie sich auch schon für den kurzen Weg zum Bus bei Gerd unter. Diese vertrauliche Geste versetzte Ellen einen schmerzhaften Stich. Dieses Weib demonstrierte versöhnliche Nähe! An Gerds Stelle würde ich Distanz wahren und Ortrud mit Verachtung strafen, dachte Ellen zornig, strich mit dem Zeigefinger über das hölzerne Geländer und leckte gedankenverloren an der hellgrauen Schicht. Es schmeckte wie pures Salz.
» Buenos días, junge Frau! Sind wir in Fadostimmung?«, fragte es hinter ihr. Dort standen ihre neuen »Freunde« und lächelten amüsiert. Ellen zuckte zusammen, weil man in einigen Regionen Deutschlands erst dann mit junge Frau angesprochen wurde, wenn man den Zenit bereits überschritten hatte.
»Der Fado gehört nicht nach Spanien, den haben wir bereits in Lissabon hinter uns gelassen«, bemerkte sie kühl.
»Wo ist denn das schöne Fräulein Tochter abgeblieben?«, fragte Valerie.
»Sie will sich ein bisschen in der Stadt umsehen«, antwortete Ellen. »Vielleicht mache ich das auch, aber wir haben unterschiedliche Interessen.«
»Wir würden uns glücklich preisen, wenn du uns begleitest«, sagte Ansgar. »Ich denke, wir drei sind hundertprozentig kompatibel.«
Obwohl Ellen ihre Zweifel hatte, schloss sie sich dem schrulligen Paar an, auch weil sie ihre Antipathie aus Höflichkeit verbergen wollte und keine einleuchtende Ausrede parat hatte. Zudem sollte Gerd nicht glauben, sie gehe ohne ihn überhaupt nicht vor die Tür. Bald schon landeten sie in einem Straßencafé.
»Tres jugos de naranja natural«, bestellte Valerie, und der Kellner antwortete: »Sehr gern!«
In Ermanglung eines anderen Themas fragte Ellen, wie man sich eine Hunde-Therapiestunde vorzustellen habe.
»Nun, auf der Couch liegen unsere depressiven Patienten zwar besonders gern, aber das sollen sie ja eher nicht! Mit einer Stunde pro Woche wie bei einem menschlichen Klienten ist es natürlich nicht getan, wir nehmen den Hund stationär in unserer Psychiatrischen Tierklinik Mundus Canis auf. Dann bieten wir ihm erst einmal alles an, was einem Vierbeiner guttut und schauen, ob er davon zufriedener wirkt. Wir haben über unsere Forschungsergebnisse auch ein Buch geschrieben und verschiedene Artikel online veröffentlicht. Das ist selbstverständlich etwas ganz anderes, als wenn ein Hundeflüsterer oder -trainer einem Haustier Manieren beibringen soll! Bei einer Langzeitbeobachtung sind Empathie und Erfahrung nötig, aber darüber verfügen wir hundertprozentig.«
Schon wieder hundertprozentig, dachte Ellen misstrauisch und fragte: »Wie erkennt ihr denn überhaupt, ob ein Tier depressiv ist?«
»Bei einem Hund ist das kein Problem: Er wedelt nicht mehr mit dem Schwanz. Selbst dann nicht, wenn er Gassi gehen darf, ein Lieblingsleckerli kriegt oder seine Besitzer von der Arbeit nach Hause kommen«, erklärte Ansgar.
»Vielleicht ist er einfach krank und hat Rheuma oder so…«, sagte Ellen.
»In manchen Fällen schon, aber dann kann man den Hund ja medikamentös behandeln«, sagte Ansgar. »Bei chronischen Schmerzen würde auch ich hundertprozentig nicht mehr mit dem Schwanz wedeln!«
»Auch ohne Wehwehchen ist dein bestes Stück hundertprozentig lahm geworden!«, bemerkte Valerie mit einer höhnischen Lache.
Zu Ellens Entsetzen sprang Ansgar auf und verpasste seiner Frau eine Ohrfeige. Daraufhin hielt es sie auch nicht mehr auf ihrem Stuhl; beim Hochschnellen fegte sie den Saft vom Tisch und sprudelte einen Schwall unverständlicher Schimpfwörter hervor. Das Einzige, was Ellen halbwegs verstand, war: Brutalsky.
Nach wenigen Sekunden hatte sich Ansgar jedoch beruhigt und versuchte, die Szene durch Ironie zu verharmlosen.
»Sie kann kein Wort Russisch, aber wenn sie wütend wird, redet sie in fremden Zungen!«, spöttelte er.
Wie bei einem perfekt geprobten Spiel hatte sich auch Valerie sofort wieder im Griff, wischte den klebrigen Orangensaft mit Papierservietten von ihrem Leopardenkleid und meinte lächelnd, nach diesem bühnenreifen Intermezzo
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