Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Über Bord

Titel: Über Bord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
ganzes Jahr später war. Und ob es wirklich nötig und richtig war, konnte sie bis heute nicht beurteilen. Klar, dass nicht jeder so rigoros wie sie die erforderlichen Schritte unternahm, sondern sich vor eingreifenden Veränderungen fürchtete. Viele entschlossen sich erst für eine endgültige Zäsur, wenn sie sich auf eine neue Liebe eingelassen hatten.
    Wäre Gerd bereit, Ortrud zu verlassen und mit Ellen ein neues Leben zu beginnen? War es nicht viel zu früh, gleich zu Beginn ihrer Beziehung weitreichende Pläne zu schmieden? Doch sagte sein spontaner Griff nach einer roten Rose nicht alles über seine Gefühle und mehr als tausend Worte? Sie waren beide nicht zu alt für einen Neustart und könnten als gereifte Menschen noch viele erfüllte Jahre zusammen verbringen.
    Andererseits hatte er betont, dass er in Ellens Schuld stehe und gutmachen wolle, was er unbeabsichtigt angerichtet hatte. Schließlich hatte er Hildegard um ihren mühsam gefundenen Frieden und Ellen um ihren vermeintlichen Vater gebracht. Nur deswegen war die Reise zustande gekommen, und einen Grund, sich zu verlieben, hatte er nur wegen seines schlechten Gewissens noch lange nicht. Doch schon Amalia zuliebe lohnte sich die Reise.
    Beim Gedanken an ihr Kind raffte sich Ellen auf und verließ die Kabine. Sie brauchte nicht lange nach ihrer Tochter zu suchen, nahe am Pool ließ sie sich gerade ein großes Eis mit heißen Himbeeren schmecken. Neben ihr saß ein junger Mann in Uniform. Ellen warf einen Blick auf die Streifen an seinem Ärmel – es waren bloß zwei. Ihre Tochter schien munter zu flirten, es sollte ihr gegönnt sein. Leider war die Sache nur von kurzer Dauer, der Seemann war anscheinend im Dienst. Als er fort war, schnappte sich Amalia einen Liegestuhl, drehte ihn zur Sonne und schloss bald darauf die Augen. Ein zufriedenes Lächeln lag auf ihren Lippen. Und ich?, dachte Ellen.
    Erst beim Abendessen sah sich die Tischgesellschaft wieder. Ortrud und Gerd sprachen nicht miteinander, schienen sich also einmal mehr geärgert oder gestritten zu haben. Ellen erfuhr wenig über den Ausflug nach Arles; es sei ein penetranter Klugscheißer in der Gruppe gewesen, meinte Gerd bloß. Gähnend ließ Ortrud die anderen wissen, sie sei ziemlich erschossen, denn es sei entgegen der Ankündigung ein allzu langer Fußmarsch geworden, und sie hatte leider vergessen, ihren Spazierstock mitzunehmen. Ihr Kreuz sehne sich nach nichts anderem als einem heißen Bad und einem Bett.
    Nach dem Dinner hörten sie sich also zu dritt die französischen Chansons an. Amalia hielt es für ihre Pflicht, nach jedem einzelnen Lied länger und lauter als alle anderen zu klatschen. Sie versuchte sogar, Bravo! zu rufen, was aber im allgemeinen Geräuschpegel völlig unterging. Im schummrig beleuchteten Saal saß Gerd neben Ellen, hatte Champagner bestellt und nahm immer mal wieder ihre Hand in die seine. Sie versuchte, seine Füße zu berühren, traf aber versehentlich voll auf seine wunden Zehen. In der Pause eilte Amalia hinter den Vorhang, um den Sängern ihre Begeisterung aus nächster Nähe kundzutun.
    »Morgen sind wir in St. Tropez…«, begannen Ellen und Gerd fast gleichzeitig und sahen einander erwartungsvoll an.
    »Ortrud hat sich vorhin mit diesem Ansgar – ich will immer Ansager sagen – verabredet. Sie planen eine Landschaftsfahrt in die Provence mit Weinprobe. Auf keinen Fall möchte ich Zeuge sein, wenn sie sich volllaufen lässt«, sagte Gerd. »Der Tag gehört uns!«
    Sie hörte es voller Freude und strahlte ihn an. »Aus Ansgar könnte man eigentlich einen Zungenbrecher basteln«, meinte Ellen in Sektlaune. »Der Ansager Ansgar sabbert im Saftladen.«
    Gerd fuhr fort: »Ansgar sagt satanische Sachen über das sagenumwobene Sachsen.«
    »Was lacht ihr denn so albern?«, fragte Amalia, die gerade zurückkam.
    »Nichts für unschuldige junge Mädchen«, sagte Ellen kichernd, und ihre Tochter ließ die beiden kopfschüttelnd allein. Als sich der Saal allmählich leerte, gingen sie Hand in Hand als Letzte hinaus, und jeder suchte das Bett in der eigenen Kabine auf.
    Das Schiff lag am nächsten Tag auf Reede, unablässig fuhren Tenderboote zum Hafen und wieder zurück. Ortrud ließ das Frühstück ausfallen, lag in der Koje und würde erst gegen Mittag mit Valerie und Ansgar zur Landpartie aufbrechen. Amalia wollte in Gesellschaft ihrer Freunde irgendetwas Lustiges unternehmen, während Gerd und Ellen planlos durch die schattigen Gassen des Städtchens

Weitere Kostenlose Bücher