Über Bord
schlenderten. Direkt am Hafen verkauften Maler ihre grellbunten Werke. Gerd wollte nicht lästern, denn seinem verehrten Tomi Ungerer konnte sowieso kein lebender Künstler das Wasser reichen. Ellen ließ sich von den unzähligen Yachten beeindrucken. Dieser zur Schau gestellte Reichtum war eine völlig neue Welt für sie.
»Siehst du dort oben die Zitadelle?«, fragte Gerd. »1592 erbaut. Wenn du willst, steigen wir hinauf und schauen von oben hinunter…«
»Eigentlich will ich lieber im Städtchen bleiben. Hast du auch in jungen Jahren die Filme mit Louis de Funès gesehen?«, fragte sie. »Hier muss ja irgendwo das Polizeirevier stehen, wo er sein Unwesen trieb.«
»Die Gendarmerie wird bestimmt zu finden sein!«, versprach Gerd. »Der Ort ist winzig klein, es sollen nur 6000 Einwohner sein, abgesehen von den vielen Touristen.«
»Wir spielen jetzt Brigitte Bardot und Gunter Sachs«, schlug Ellen vor. »Jung und frisch verliebt an der Côte d’Azur! Ich darf mir doch etwas wünschen, weil ich die Kolumbusstatue nicht bekommen habe. Schenkst du mir eine dieser Yachten, Gunter?«
»Mon Dieu, Brigitte, wer wird denn gleich so anspruchsvoll sein!«
»Apropos Brigitte, so heißt doch auch die Frau von Matthias. Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis: Sie hat mir fast alle Kleider geliehen, die ich bisher auf unserer Reise getragen habe.«
»Dann lass uns doch etwas Neues zum Anziehen suchen!«
Als es ernst mit dem Kauf wurde, waren Ellens Wünsche bescheiden: Sie gab sich mit einem langärmeligen, bretonischen Streifenshirt aus robuster Baumwolle zufrieden, obwohl es eher an den Atlantik gepasst hätte. Es war nicht mehr ganz so sommerlich wie zu Beginn der Reise, und ein etwas wärmeres, sportliches Outfit war tagsüber angesagt.
Schon am frühen Nachmittag landeten sie im Bett. Zuvor hatte sich Gerd vergewissert, dass Ortrud und ihre Freunde tatsächlich in die Provence gefahren waren und wohl erst mit dem letzten Tender zurückkommen würden, was bestimmt auch für Amalia galt. Für alle Fälle hatte Ellen das bewusste Schildchen an der Außentür angebracht. Gerd hatte also keinen Grund, sich hetzen zu müssen, was er auch nicht tat. Es dauerte ziemlich lange, bis er in die Gänge kam, aber Ellen war es recht so. Sie wünschte sich ja keine kurzlebige Affäre, die in wenigen Tagen zu Ende ging, sondern eine neue Lebensperspektive. Heimlich schaute sie allerdings doch auf die Uhr, denn vor dem Abendessen mussten sich beide in der eigenen Kabine umziehen. Als ihr Handy klingelte, zuckte Ellen zusammen. Sollte es schon wieder Ortrud sein, die ihnen den Spaß verdarb?
Amalia sagte bittend: »Mama, reg dich nicht auf, wenn das Schiff ohne mich weiterfährt. Ich bleibe heute Nacht an Land, weil ich zu einem einmaligen Event eingeladen wurde. Die Sänger kennen hier einen Kollegen, der auf der Yacht eines stinkreichen Russen singen wird! Wenn die Jungs mit ihm zusammen auftreten, kriegen sie ein fettes Honorar. Man hat versprochen, uns morgen nach Monte Carlo zu bringen, wo wir wieder unser Schiff entern. Entweder mit einem Hubschrauber oder einem Speedboat! Meine Freunde haben schon mit dem Entertainmentmanager der RENA gesprochen und ausnahmsweise die Erlaubnis erhalten. Na, was sagst du nun?«
Ja, was sollte man dazu sagen? Als Mutter, die gerade mit einem Lover im Bett lag? Natürlich fand es Ellen sehr bedenklich, wenn ihre Tochter auf der Yacht eines russischen Oligarchen in Champagner badete, Koks konsumierte und nackig an einen Ölscheich versteigert wurde; aber verbieten konnte sie es nicht.
»Sei vorsichtig«, sagte sie nur. »Du kennst diese Leute doch gar nicht!«
Gerd beruhigte sie. Amalia sei schließlich in Begleitung von fünf anständigen deutschen Männern, die sie sicherlich beschützen würden. Monaco sei zudem nicht weit und schnell zu erreichen.
»In Monte Carlo soll es übrigens ein phantastisches Ozeanographisches Museum geben, da müssen wir unbedingt hin«, schloss er.
Kurz danach schien Gerd sich nicht wohl zu fühlen und stöhnte einmal leise auf; Ellens besorgte Frage ignorierte er, gab dann aber doch zu, ein beklemmendes Gefühl links hinterm Brustbein zu spüren.
»Sei mir nicht böse, Liebling, wenn ich dich jetzt verlasse«, sagte er und suchte seine Hosen. »Ich brauche ein bisschen Ruhe, bin halt schon ein alter Mann…«
»Danke für die Blumen«, sagte Ellen. »Schließlich bist du nur ein Jahr älter als ich. Du musst aber doch nicht gleich die Flucht ergreifen, um
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