Über Bord
gestern eindeutig zu viel getrunken, sagte sie sich.
Die Gaststätte im obersten Stockwerk war mit einer kleinen Gesellschaft besetzt, die dort Geburtstag feierte – es handelte sich um etwa fünfjährige Knaben mit ihren Erzieherinnen.
»Hier ist es mir zu laut«, sagte Amalia, »schauen wir mal, wie es auf der Dachterrasse aussieht. Ich bin wahnsinnig durstig.«
Dort war es wiederum etwas kühl, aber sie hatten zum Glück ihre Jacken dabei. Kaum hatten sie Platz genommen und bewunderten die Aussicht, als sich eine freche Möwe auf das Geländer setzte und aufmerksam darauf wartete, dass die Gäste etwas konsumieren würden. Da beide heute kaum etwas gegessen hatten, bestellten sie Salade niçoise mit Baguette und eine große Flasche Mineralwasser. Das Essen war noch nicht auf dem Tisch, da näherten sich Ansgar und Valerie und setzten sich unaufgefordert zu ihnen.
»Na, schon fertig mit dem Fish-Viewing?«, fragte Amalia.
»Das kann man ja nicht lange mit ansehen, wie die armen Kerle stumpfsinnig im Kreis herumschwimmen«, sagte Valerie.
»In unserem neuen Sachbuch über depressive Tiere machen die Zoo- und Aquarienbewohner wohl nur einen kleineren Teil aus«, sagte Ansgar. »Trotzdem werden wir auch ihnen je ein Kapitel widmen. Die Menschheit hat zwar im Laufe der Jahrhunderte in moralischer Hinsicht nur minimale Fortschritte erzielt, aber immerhin die Sklavenhaltung gesetzlich verboten. Es wäre wünschenswert, wenn man das irgendwann auch für Tiere durchsetzen könnte.«
»Die Fische hier sind ja eigentlich keine Sklaven«, meinte Amalia.
»Aber unsere Nutztiere. Sobald eine Kuh Milch gibt, bleibt sie angekettet im Stall – wie soll man das denn sonst nennen?«, fragte Valerie.
»Willst du etwa alle Rindviecher frei lassen und alle Zoos auflösen?«, fragte Ellen. »Das sind doch meistens Tiere, die bereits in Gefangenschaft geboren wurden und gar nicht mehr wissen, wie man sich Futter beschafft.«
»Soweit es möglich ist, sollte man sie behutsam auswildern«, sagte Ansgar. »Eine Ausnahme machen höchstens die Menschenaffen, weil sie in etwa fünfzig Jahren von unserem Planeten verschwunden sein werden. Für die Wissenschaft sind sie unentbehrlich, da es sich schließlich um unsere nächsten Verwandten handelt. Die Genforscher sind gerade dabei, unsere großen Gemeinsamkeiten und klitzekleinen Unterschiede zu entschlüsseln.«
»Wollt ihr dann auch Hunde und Katzen auswildern?«, fragte Amalia.
»Niemals im Leben, dann wären wir ja brotlos!«, sagte Valerie. »In diesem Fall sind das Problem eher die Menschen. Es fehlt heutzutage ein natürlicher Umgang. Zum Beispiel sind Obdachlosenhunde niemals depressiv, sondern völlig zufrieden. Ein Hund, der mit seinem Besitzer auch mal spielen darf, schüttet Serotonin aus und ist glücklich.«
Der Imbiss wurde serviert, die Möwe wartete immer noch. Mit kindlichem Vergnügen warf ihr Amalia winzige Brotbrocken hin, die der Vogel geschickt in der Luft auffing.
»Die Möwe ist ein Profi, die macht das nicht zum ersten Mal«, sagte Ansgar bewundernd. Valerie ignorierte das amüsante Schauspiel und meinte: »Ich will euch ja nicht den Appetit verderben, aber Ortruds Schicksal beschäftigt mich doch sehr. Es würde mich interessieren, was man jetzt unternehmen wird.«
»Soviel ich weiß, wurde sofort Seenotalarm gegeben. Leider meinte der Schiffsarzt, dass Alkohol die Gefahr einer Unterkühlung stark erhöht, daher sind die Rettungschancen gleich null«, sagte Ellen. »Außerdem hat Gerd einige Passagen in Ortruds Reisenotizen gefunden, die auf einen Suizid hinweisen.«
»Ein Tagebuch?«, fragte Ansgar. »Das ist sicherlich hochinteressant!«
»Wenn ich mich ins Wasser stürzen wollte, würde ich mein Tagebuch unter allen Umständen mitnehmen«, sagte Amalia.
»Falsch«, entgegnete Valerie. »Die meisten Selbstmörder wollen ja gar nicht sterben, sondern unter den für sie unerträglichen Umständen nicht weiterleben, wobei die unheilbar Kranken eine Sonderstellung einnehmen. Ein Suizid ist fast immer ein Hilfeschrei beziehungsweise eine Anklage, und daher möchten die Depressiven, dass ihre Mitmenschen die Beschuldigungen lesen, sich verantwortlich für ihren Tod fühlen und somit lebenslänglich bestraft werden.«
»Wie sieht das Tagebuch denn aus? Schreibt sie mit Bleistift oder goldener Tinte?«, fragte Amalia.
»Gerd hat mir daraus vorgelesen, ich hatte es nicht selbst in der Hand. Äußerlich erinnerte es mich ein bisschen an Clärchens
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