Über Bord
geheimes Mädchentagebuch, rosarot mit einem winzigen Schlösschen. Aber offenbar hat sie es extra für diese Reise angelegt, es ist also nicht sonderlich umfangreich.«
Amalia gähnte. »Und – was machen wir jetzt?«, fragte sie.
Valerie bemerkte spöttisch: »Nun, für dich sind jetzt wohl die vier großen S der Touristen angesagt: Sightseeing, Shopping, Souvenir, Show!«
»Das erste S habe ich schon abgehakt«, sagte Amalia verdrossen.
»In jeder Stadt gibt es so etwas wie die Zürcher Bahnhofstraße«, sagte Valerie. »In Prag nennen sie es die Schick-Scheck-Schock-Straße: Erst ist man begeistert über die schicken Kleider, dann stellt man einen Scheck aus und kriegt einen Schock. Diese Straße musst du dir vorknöpfen!«
»Alles Bullshit und nichts für mich«, sagte Ansgar. »Ich bleibe gemütlich sitzen und beobachte die Schulklassen, die von ihren Biolehrern hierhergetrieben werden. Unfreiwilliger Unterricht hat ja auch was von Sklaverei.«
»Mein Mann hat oft die Schule geschwänzt«, sagte Valerie. »Er hat sich zwar nicht versklaven lassen, dafür aber gewaltige Bildungslücken. Doch mir geht nicht aus dem Kopf, was der arme Gerd jetzt machen wird. Er kann ja nicht einfach die Reise fortsetzen, als sei nichts gewesen!«
Daran hatte Ellen noch gar nicht gedacht. In ihrer Vorstellung lief sie Hand in Hand mit ihrem Liebsten durch die nächsten malerischen Städtchen.
»Soviel ich weiß, halten sich die Dornfelds keine Hunde, sondern Kinder«, überlegte Ansgar. »Gerd wird ihnen bestimmt sobald wie möglich die traurige Nachricht persönlich überbringen.«
»Müssen wir dann auch die Reise abbrechen, Mama?«, fragte Amalia und zog einen Flunsch. »Es sind doch nur noch ein paar Tage, die möchte ich genießen!«
»Ein rechtes Herzchen hat Madame Tunkel da herangezogen«, sagte Ansgar zu Valerie.
Ellen knüllte die Papierserviette zusammen, stand auf und legte einen Schein auf den Tisch, denn sie hatte keine Lust auf Frotzeleien. Amalia zog es in den Museumsshop.
Erst am Abend fanden Ellen und Gerd wieder zusammen. Gerd sah erschöpft aus, er hatte stundenlang mit den Kriminalbeamten, dem Sicherheitsoffizier und dem Konsulatsvertreter geredet.
»Komm, wir gehen essen«, sagte er zu Ellen. »Aber nicht an unseren Stammtisch im Restaurant, lass uns ein stilles Eckchen suchen, wo nicht alle zuhören.«
Sie füllten sich zuerst die Teller am Salatbuffet und suchten sich einen Zweiertisch hinter einer Säule. Ellen war es egal, wo und mit wem Amalia essen würde. Mit Befremden sah sie, dass Gerd große Mengen Maiskörner in sich hineinschaufelte.
»Sie haben mir für morgen einen Flug von Nizza nach München gebucht«, sagte er mit vollem Mund. »Ich muss gleich packen und das Schiff verlassen, denn für heute Nacht hat man mir ein Hotel in Monte Carlo besorgt. Meinen Sohn konnte ich telefonisch nicht erreichen, er hält sich immer noch in den Staaten auf, unserer Franziska möchte ich die schmerzliche Nachricht persönlich überbringen.«
»Was studiert deine Tochter eigentlich?«, fragte Ellen.
» BWL «, sagte Gerd. »Seit einiger Zeit lebt sie mit zwei Kommilitoninnen in einer Münchner WG .«
Ellen war maßlos enttäuscht, aber sie zeigte es nicht. »Würde es dir helfen, wenn ich dich begleite?«
»Lieb gemeint, aber das bringt doch nichts! Franzi kennt dich ja gar nicht und weiß bisher nichts von unseren komplizierten Familienverstrickungen. Auf jeden Fall solltest du noch bis zum Ende dieser Reise an Bord bleiben, schließlich ist alles bezahlt. Denk an Amalia, für die ein Abbruch wie eine kalte Dusche wäre. Calvi soll ja reizend und ziemlich übersichtlich sein, nur etwa 5500 Einwohner.« Er sah auf die Uhr, denn das Schiff würde in einer Stunde nach Korsika weiterfahren.
»Kann ich noch irgendetwas für dich tun?«, fragte Ellen.
»Nicht wirklich. Das heißt, mir fällt etwas ein: Vielleicht könntest du morgen Ortruds Sachen zusammenpacken, man wird sie mir nachschicken. Die Schiffsleitung hat sich überaus hilfsbereit und mitfühlend verhalten.«
Ellen versprach es. Gerd stand schon bald auf und eilte in seine Kabine. Der karibische Salat hatte Ellen nicht sattgemacht, sie holte sich noch zwei Lammkoteletts mit Auberginen, Kartoffeln und Tomaten vom Grill und zum Dessert eine doppelte Portion Crêpe Suzette. Dann bezog sie in der Nähe der Gangway Stellung, um auf Gerd zu warten und Abschied zu nehmen.
»Kurz und schmerzlos, man beobachtet uns«, sagte Gerd und umarmte
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