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Über Boxen

Über Boxen

Titel: Über Boxen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Carol Oates
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Trevor Berbick, den Titelträger des World Boxing Council, antrat und den er in sechs brillanten Minuten gewann, stand unter der Prämisse, dass selbst ein so extrem junger Boxer (Tyson war damals zwanzig und kämpfte in einer Gewichtsklasse, in der Boxer normalerweise erst spät in Hochform kommen), der sich noch nie mit einem Gegner von Berbicks Fähigkeiten gemessen hatte, dem älteren Boxer seinen Willen aufzwingen kann. So gesehen war Tyson ein «Herausforderer» in mehr als dem üblichen Sinn des Wortes, wie es zum Beispiel Joe Fraziers glückloser Sohn Marvis gewesen war, der vor einigen Jahren Larry Holmes zum Kampf um den Schwergewichtstitel herausgefordert hatte.
    Tysons Titelverteidigungskampf am 16. Oktober 1987 in Atlantic City stand unter einer Prämisse, die man etwa so formulieren könnte: Der sechsundzwanzig Jahre alte Herausforderer Tyrell Biggs, Olympiasieger im Superschwergewicht1984 , hatte eine Strafe verdient, weil seine Amateurkarriere reibungsloser und triumphaler verlaufen war als die von Mike Tyson, und er verdiente eine besonders harte Strafe, weil er, so Tyson, «keinen Respekt vor mir hat». (Tyson sagte nach dem Kampf, er hätte Biggs schon in der dritten Runde k . o. schlagen können, habe sich aber entschlossen, ihn langsam k . o. zu schlagen, «damit er noch lang dran denkt. Ich wollte ihm richtig wehtun.») Dass vor dem Kampf bei den Boxmanagern die Wogen hochgingen, bis an die Grenze der Hysterie, trug nicht zur Entspannung der Situation bei.
    Wie der junge Dempsey vor seiner Zeit als Champion ist Tyson mit seinem teilnahmslosen Totenkopfgesicht, dem unverwandten Starren und seiner Abneigung gegen glamouröse Selbstinszenierung im Ring – kein Mantel, keine Socken, nur die typischen schwarzen Shorts und Schuhe – von der beunruhigenden Aura umgeben, dass die von ihm entfesselte Gewalt gegen seine Gegner irgendwie gerecht ist, dass irgendeine Verletzung in seiner Vergangenheit, eine Wunde, eine Beleidigung seiner selbst oder seiner Vorfahren, im Ring wiedergutgemacht, dass ein geheimnisvolles Ungleichgewicht ins Lot gebracht wird. Sein zielstrebiger Kampfstil scheint seinem Groll die Wucht einer Naturkatastrophe zu verleihen. Der alte Ausdruck «der Zorn Gottes» kommt einem in den Sinn.
    Obwohl einige Experten immer noch glaubten, Tyrell Biggs mit seinen «überlegenen» Fähigkeiten, seiner Größe und seinem Reichweitenvorteil könne Tyson eine unerwartete Niederlage beibringen, war der Kampf für die meisten Zuschauer im Atlantic City Convention Center eine ausgemachte Sache. (Die Wetten standen zehn zu eins für Tyson.) Es ging nicht darum, welcher Boxer gewinnen, sondern wann und wie eindeutig Tyson gewinnen würde und wie sehr er Biggs wehtun würde. Als Biggs tänzelnd, pendelnd und schattenboxend in den Ring trat, eine äußerst elegante Erscheinung im weißen, kurzen, fantasievoll verzierten Seidenmantel mit Schulterpolstern, begleitet von einer unheilvollen, irgendwie nach Dschungel klingenden, gleichzeitig verstärkten und gedämpften Musik, war dies ein ebenso erschreckender wie unheimlich schöner Anblick, denn hier kam nicht der Gegner des Champions, sondern das abendliche Opfer für den Champion.
    Jemandem, der das Boxen nur vom Bildschirm kennt, kann man nur schwer klarmachen, wie ganz anders, wie dramatisch anders das Liveereignis ist. Zum einen wird der Livekampf nicht durch einen Schleier von Sprecherstimmen gefiltert; er spielt sich stumm ab, ohne Vermittlung. Da ihn keine Worte überdecken oder erklären, wird man nicht von anderer Leute Meinungen abgelenkt, oft weiß man von einer Sekunde zur nächsten nicht genau, was geschieht, weil es so schnell und unwiderruflich geschieht. Es gibt keine Wiederholung in Zeitlupe. Außerdem befleißigen sich die Kommentatoren, wenn sie über das Boxen reden, einer anheimelnden, schematisierten Sprache; sie entschärfen es gewissermaßen, so wie die Sprecher in Dokumentarfilmen über das afrikanische Veld mit ihren schmeichelweichen Stimmen die grausamen, «natürlichen» Abläufe der Nahrungskette entschärfen. Durch das Benennen, das In-Begriffe-Kleiden verringern wir den Schrecken gewisser unerbittlicher Lebenstatsachen; indem wir das Unaussprechliche aussprechlich machen, setzen wir es in eine beruhigende, Unheil abwehrende Beziehung zu uns. Oder reden uns das ein.
    Der Liveboxkampf jedoch behauptet, dass solche Strategien nichts nützen, und je grimmiger ein Wettkampf, je schonungsloser ein Mann den anderen

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