Über das Haben
gliedert sie sich auch Anteile der Vergangenheit und der Zukunft an und betrachtet diese Zeitstufen als «noch» oder «schon» der Gegenwart zugehörig. Diese erweiterte Zugehörigkeit bedeutet zugleich für das Dasein, immer in den Fängen der Endlichkeit, eine Unze Freiheit von seiner bloßen Gegenwart.
Schauen wir noch einmal zurück auf «Sein und Zeit». In diesem Werk kommt Heidegger auch, eher beiläufig, auf die drei ZeitstufenVergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sprechen, die er die «drei Ekstasen der Zeit» nennt. Die Zeitformen der Grammatik berücksichtigt er dabei nicht wirklich. In der Grammatik sind nämlich nicht drei, sondern – je nach den Einzelsprachen – mindestens fünf bis zehn «Tempora» zu zählen, mit einem auffälligen Ungleichgewicht zugunsten der Vergangenheit. Diesen Fingerzeigen wollen wir im Folgenden ein Stück weit folgen.
Von der Sprache her betrachtet, manifestieren sich alle Zeitformen oder Tempora primär an den Verben, sekundär auch an anderen Wortarten.[ 1 ] Dieser Regel folgen auch die Formen des Verbs HABEN . Die einfachen (synthetischen) Zeitformen gruppieren sich um die Stämme «ich habe» und «ich hatte». Sie werden jedoch vielfältig ergänzt durch analytische Zeitformen, die mittels «Hilfsverben» (
auxiliary verbs
) zusammengesetzt werden. Unter ihnen begegnen wir auch dem Verb HABEN wieder, nunmehr als Hilfsverb, zum Beispiel: «ich HABE gearbeitet». Aus dem Zusammenwirken einer finiten Form des Verbs HABEN als Hilfsverb mit dem Rück-Partizip (Partizip Perfekt) eines beliebigen anderen Verbs entsteht hier analytisch ein neues Tempus: das Perfekt. Es kann seinerseits noch einmal in ein weiteres analytisches Tempus rückversetzt werden: das Plusquamperfekt («ich HATTE gearbeitet»). Nach diesem Muster kann das Verb HABEN sogar in einer Doppelrolle auftreten, als Hilfsverb und als Vollverb («ich HABE GEHABT/HATTE GEHABT »).
Innerhalb der sogenannten Vergangenheits-Tempora unterscheiden sich alle (analytischen) Formen des Perfekts signifikant von den (synthetischen) Formen des Präteritums. Die Perfekt-Formen dienen dazu, einen Sachverhalt zu «besprechen». Mit den Formen des Präteritums hingegen wird ein Sachverhalt «erzählt». Diese Unterscheidung ist für den Hörer oder Leser eine wichtige Verständnishilfe. Das Erzählen wendet sich von der Gegenwart ab und begründet für die Kommunikation eine eigene Sphäre, die «erzählte Welt». Alles, was erzählt wird, kann daher vom Adressaten mit einer gewissen Gelassenheit und Entspanntheit aufgenommen werden. Ein unmittelbar fälliges Handeln ist nicht gefragt.
Im markanten Kontrast zum Erzählen gibt das Perfekt als Tempus der «besprochenen Welt» dem Hörer oder Leser den Wink, dass derbetreffende Sachverhalt, obwohl vergangen, gleichwohl der Gegenwart «noch zugehört». In diesem Hinweis können wir deutlich die allgemeine Bedeutung des Verbs HABEN wiedererkennen, insofern dieses mit seinen Prädikationen eine elementare Zugehörigkeit (Pertinenz) zum Ausdruck bringt (vgl. Kap. 7). Für HABEN als Hilfsverb gilt diese Bedeutung grundsätzlich weiter, mit der Besonderheit jedoch, dass diese Zugehörigkeit beim Perfekt (nur) durch eine Zeitbrücke ausgewiesen wird. Durch das Tempus Perfekt wird also ein Hörer oder Leser davon in Kenntnis gesetzt, dass ein vergangener Sachverhalt «noch» (das heißt, «länger als erwartet») der Gegenwart «zugehörig» ist und als gegenwärtig weiterhin besprochen werden soll.
Aus diesen Strukturbedingungen folgt, dass mündliche oder schriftliche Sprachspiele, die sich vorwiegend des Perfekts bedienen, besonders geeignet sind, ein Resultat, ein Fazit, eine Bilanz oder eine sonstige Rechenschaft gebende Äußerung auszudrücken, wenn deren Geltung in der Gegenwart «noch» verhandelt werden muss. So spielen sie auch eine besondere Rolle in dem ethischen oder juristischen Sprachspiel «Verantwortung», auf das insbesondere Hans Jonas in seinen Schriften zur Verantwortungsethik aufmerksam gemacht hat.[ 2 ] Prototypisch hat dieser Autor seine Theorie der Verantwortung an der biblischen Situation von Kains Brudermord dargestellt (Genesis, Kap. 3). Denn die von Gott an Kain nach dessen Mord an Abel gerichtete Frage «Was HAST du getan?» ist nach Jonas die Urfrage der Verantwortungsethik. Und somit ist sie in der Luther-Bibel (wie auch in anderen maßgeblichen Bibelübersetzungen) im Perfekt gestellt, da dieses Kapitaldelikt, wie im unauslöschlichen
Weitere Kostenlose Bücher