Über das Haben
«Kainsmal» symbolisiert, weiterhin («noch») zur biblisch interpretierten Gegenwart gehört.
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Mit einem gewissen Parallelismus ist die Zukunft als eine zeitliche Perspektive anzusehen, die unter bestimmten Bedingungen «schon» zur Gegenwart gehören kann. Doch ist in der Sprache die Vorausschau weniger deutlich ausgeprägt als die vorher besprochene Rückschau auf die Vergangenheit. Denn von der Vergangenheit ist bekannt, dass sie im Gedächtnis der Menschen oder noch zuverlässiger in der historischenAufzeichnung über eine längere Geschichtszeit zugänglich bleibt. Die Zukunft hingegen ist die unbekannte Zeit schlechthin. Auch das Sprachbewusstsein kann sich nur tastend in dieses Fremdland vorwagen, wobei die natürlichen Sprachen sehr unterschiedliche Strategien der Erkundung gewählt haben. In der deutschen Sprache wird die Vorausschau in die Zukunft umgangssprachlich vornehmlich dem Tempus Präsens in Verbindung mit temporalen Adverbien zugewiesen («heute HABEN wir viel zu tun, denn morgen HABEN wir Feiertag»). Sobald diese Vorausschau jedoch auf Ungewissheiten stößt oder gegen aufkommende Bedenken mit Nachdruck vertreten werden muss, übernimmt in der Regel das «eigentliche» Futur die Vorausschau und bedient sich dabei eines Hilfsverbs aus dem SEINS -Register («der ewige Friede WIRD kommen»). Da diese Hoffnung bekanntlich nicht sehr sicher gegründet ist, WIRD man wohl einige Zweifel behalten dürfen.
Es gibt jedoch darüber hinaus einen eigenen Zukunftsbereich, der – weil vielleicht etwas weniger ungewiss – exklusiv dem HABEN vorbehalten ist. Dabei wird ebenfalls, ganz ähnlich wie beim Perfekt, eine finite Form des Verbs HABEN als Hilfsverb gebraucht, nun aber in einer Verbindung mit einem Vollverb im Infinitiv mit «zu» («ich HABE eigentlich nichts zu verlieren»). In dieser Präposition, die in Verbindung mit HABEN als Zubringer ein Ziel anvisiert, ist die Vorausschau enthalten. Doch auch sie kann ihre Unsicherheit nicht immer verbergen und tritt daher häufig in der einen oder anderen Weise «modal» eingefärbt auf («was HABE ich schon zu befürchten?»). Auch in solcher modalen Ausdrucksweise wird ein Blick in die Zukunft, insofern diese sich etwa als Verhör oder gerichtliche Untersuchung abspielen sollte, «schon» als der Gegenwart «zugehörig» vorweggenommen, aber nun wohl eher aus dem guten oder weniger guten Gewissen einer beschuldigten Person. Nicht selten gibt bei diesem Modal-Futur auch ein Zwang (ein «Muss») die Richtung vor, in der die Zukunft exploriert werden soll («Sie HABEN mit Ihren Ausweispapieren bei der Verwaltung vorstellig zu werden»). Eben das, was die Leute tun müssen, «werden» sie meistens wohl «tun». Sonst HABEN sie bestimmt mit Unannehmlichkeiten zu rechnen.
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MIT DEM KRIEGEN KOMMT DAS HABEN
Als ich in diesem Buch die beiden Elementarverben SEIN und HABEN verglichen habe (vgl. 7), ist ein Gesichtspunkt noch außer Betracht geblieben, der für die Zeitlichkeit dieser beiden Kategorien von nicht geringer Bedeutung ist. Für sie beide gilt nämlich, dass weder SEIN noch HABEN immer schon fertig «da» sind. Beide Zustände kommen in vielen Fällen erst durch einen Prozess zustande, der auf der einen Seite von dem Verb «werden», auf der anderen Seite von dem Verb «kriegen» ausgelöst wird. Insofern gehören diese Verben als Satelliten mit zu den Kategorien SEIN und HABEN .[ 1 ]
In der Grammatik sind «werden» und «kriegen» Elementarverben mit jeweils hoher Gebrauchsfrequenz und mit parallelen Strukturen, die nicht zu übersehen sind:
sie IST immer heiter – er WIRD schnell müde
er HAT an allem Spaß – sie KRIEGT leicht Ärger
Die beiden Verben «werden» und «kriegen» dienen auch, wiederum parallel strukturiert, als Hilfsverben zur Bildung besonderer Tempusformen im Passiv, so dass sich das WERDEN zum SEIN etwa so wie das KRIEGEN zum HABEN verhält:
er IST gestern gekommen – sie WIRD gerade gerufen
sie HAT ein Taxi bestellt – er KRIEGT die Fahrt bezahlt
Bei jedem der letzten Beispiele wirken die Hilfsverben WERDEN und KRIEGEN mit dem Rück-Partizip (Partizip Perfekt) zusammen.
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Nun empfiehlt es sich jedoch, das Verb «kriegen» auch lexikographisch unter die Lupe zu nehmen. Es ist in der deutschen Sprache ein eigenartigesVerb, das im Sprachgebrauch zu allerhand Irritationen Anlass gegeben hat. Zunächst etymologisch. Es steht außer Frage, dass dieses Verb, wenn ich so sagen darf, keine gute Kinderstube gehabt
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