Über das Haben
gerade der Körper Wesentliches beizutragen hat. Denn die Leiblichkeit oder Körperlichkeit (
corporéité
) galt ihm als die vermittelnde Instanz schlechthin zwischen dem SEIN und dem HABEN . Wir wollen diese Anregung hier neu aufnehmen und sie dabei sprachlich entfalten.
Von der Sprache her gesehen, besteht selten Anlass zu sagen: «Ich HABE einen Körper», so wenig wie sich anbietet zu sagen: «Ich HABE eine Seele». Von welcher Warte aus könnte man denn, gleichsam unbeteiligt, «seinen» Körper oder «seine» Seele betrachten! Umso öfter besteht jedoch Anlass, sich in irgendeiner Hinsicht seiner Körperteile zu vergewissern. Und nicht weniger häufig kommt die Seele (Psyche) auf den Gedanken, mit sich selber oder mit anderen darüber zu reden, welche Seelenteile jeweils an der Reihe sind, aktiv zu werden. In dieser doppelten Hinsicht steht in jeder Situation die HABEN -Prädikation ausdrucksbereit zur Verfügung, da ja die Körper- und Seelenteile mit aller Evidenz zu jedem beliebigen Subjekt «dazugehören».
Was zunächst den Körper und seine Körperteile betrifft, so ist es für jede Subjektperson evident, dass sie einen Kopf, einen Leib, zwei Arme und zwei Beine HAT und dass sie selbstverständlich von allen diesen Körperteilen sagen kann: MEIN Kopf, MEIN Rücken, MEINE Arme, MEINE Beine. Von diesem Bestand überhaupt Aufhebens zu machen, ist jedoch für ein Subjekt nur dann naheliegend, wenn ein Körperteil in irgendeiner Hinsicht bei der eigenen Person oder bei anderen Subjekten, positiv oder negativ, auffällig geworden ist. Dann bietet sich sogleich die HABEN -Prädikation zur Verständigung an: «Er|sie HAT ein markantes Profil/kräftige Schultern/volles Haar/zupackende Hände/flinke Füße». In analoger Weise kann sich ein Subjekt auffälligerSeelenteile versichern: «Er|sie HAT eine leichte Auffassungsgabe/ein gutes Gedächtnis/Witz und Humor/eine blühende Phantasie/immer die besten Vorsätze.»
Es mag nun wohl in den Fachsprachen der Psychologie und Medizin leicht möglich sein, die Körper- und Seelenteile mit befriedigender Trennschärfe zu unterscheiden. In der Pragmatik des gewöhnlichen Lebens kümmert sich das HABEN kaum um eine solche Trennung. Körperliches und Seelisches greifen meistens ineinander, so wie es seit der Antike zum festen Wissensbestand der Menschenbeobachtung und Charakterkunde gehört. Beleg dafür ist eine Standardformulierung Ciceros[ 1 ]:
Jede Regung des Geistes HAT von der Natur ihren charakteristischen Ausdruck in Miene, Tonfall und Gebärde.
[
Omnis enim motus animi suum quendam a natura HABET vultum et sonum et gestum.
]
Oft zitiert werden in diesem Zusammenhang auch ein paar Verse Goethes, in denen er fast privat seinen persönlichen HABITUS kennzeichnet:[ 2 ]
Vom Vater HAB ’ ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Von Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.
*
Nun muss aber dringend, gerade im Hinblick auf die Körperlichkeit des Menschen, die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz wieder ins Spiel kommen.[ 3 ] Dafür sorgt schon zur Genüge die Natur selber, denn von Zeit zu Zeit werden die Menschen krank. Dann bricht schleichend oder plötzlich ein «Störfall» in das körperliche und seelische Wohlbefinden ein, und man merkt von einem Moment zum andern: «Ich BIN krank». Jetzt zeigt auf einmal die sonst verdrängte Zeitlichkeit ihr wahres Gesicht in Gestalt der Endlichkeit und der damit verbundenen Hinfälligkeit. Wenn dann aber schließlich am glücklichen Ende dieser Zeitphase die Krankheit «glimpflich» ausgestanden ist, steht auchschnell im Bewusstsein der Satz bereit: «Ich BIN wieder gesund». So betrachtet, befinden wir uns mit dem angenommenen Wechsel der Befindlichkeit ganz in der Mitte des DA-SEINS , das sich immer dann sofort zu Wort meldet, wenn es um Leib und Leben geht. Doch gehören auch das WERDEN und das BLEIBEN als temporale Varianten des SEINS zum Menschen hinzu. Denn wer krank IST , weiß wohl, dass er erst wieder gesund WERDEN muss, ehe ihm gewünscht werden kann: « BLEIBEN Sie gesund!».
Für erwachsene und gesellschaftlich vernetzte Personen ist es mit dem elementaren Sprachspiel des Gesund- oder Krank- SEINS nicht getan. Für sie gilt es als irgendwie unseriös, sich mit den elementaren Grenzzuständen der körperlichen Befindlichkeit zufrieden zu geben. Nach den gesellschaftlich geltenden Spielregeln wird von ihnen erwartet, dass sie nicht einfach denken und sagen: «Ich BIN (oder feiere) jetzt
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