Über das Haben
ärgerlich bleibt hingegen bei der Lektüre des Romans (besonders bei den in der Komposition nachgeschobenen Schlussabschnitten, die auf polnischem Territorium spielen), dass der Autor als Grenzlanddeutscher für die polnische Bevölkerung und überhaupt für die slawische «Rasse» (so wörtlich im Text) nur Geringschätzung übrig hat. Der langatmige Erzählerbericht über die alltäglichen Mühen bei der Bewirtschaftung des zweiten Ritterguts, die mit verbissenem Fleiß im polnischen Nachbarland betrieben wird, ist daher gleichzeitig die Geschichte einer kolonialistischen Landnahme, die mit nichts als einer bösartigen Herrenrassen-Ideologie gegenüber dem europäischenNachbarn motiviert wird. Es macht die Sache nur noch schlimmer, dass sich ausgerechnet die vom Autor ausersehenen Sympathieträger für alle möglichen «deutschen Tugenden» zu Wortführern dumpf-rassistischer Arroganz gegenüber der «polnischen Wirtschaft» hergeben lassen müssen: der Patrizier Traugott Schröter und sein späterer Kompagnon Anton Wohlfahrt. In ihren verschrobenen Vorurteilen ist für die Polen und andere slawische Völker nur ein ärmlicher Platz am Rande der Gesellschaft übrig, denn «sie HABEN keinen Bürgerstand» (Wohlfahrt). Und: «Sie HABEN keine Kultur» (Schröter).
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WOZU HAT PARIS EINE BÖRSE? – MIT EMILE ZOLA
Der Roman «Das Geld» (
L’Argent
) von Emile Zola (1840–1902) kann in mehrfacher Hinsicht als Kontrastprogramm zu Gustav Freytags Roman «Soll und Haben» gelesen werden. Er ist 36 Jahre später als dieser, nämlich 1891, erschienen.[ 1 ] Damals war Zola schon mit seinen frühen Werken ein in Frankreich sehr angesehener Schriftsteller. Er war jedoch noch nicht der in ganz Europa bekannte Wortführer der Liberalen und «Intellektuellen», der er ein paar Jahre später im politischen Streit um den Dreyfus-Prozess werden sollte.
Zolas Roman spielt in der Finanzwelt des
Second Empire
. Das war, in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, eine Epoche, in der in Frankreich die Wirtschaft boomte und die Börse fieberte. Es ist einleuchtend, dass unter diesen Bedingungen auch die Literatur mit Zola ganz andere Fragen aufwarf, als sie eine Generation zuvor Gustav Freytag für das Wirtschaftsleben einer preußischen Provinz gestellt hatte (vgl. Kap. 26). Das gilt auch für die Modalitäten, die das HABEN als Wirtschaftsfaktor betreffen. Bei Gustav Freytag hatte sich die Romanhandlung an zwei von Grund auf verschiedenen Erscheinungsformen des HABENS orientiert, dem unbeweglichen HABEN als Grundbesitz des Landadels (
res immobiles
) und dem beweglichen HABEN der Waren (
res mobiles
), wie sie von einem soliden Handelshaus als «fahrende» Güter durch ganz Europa bewegt wurden. Zwischen diese beiden Altformen des HABENS drängte sich, von Freytag in seiner Dynamik nur unwillig registriert, das nach wechselnden Bedürfnissen schnell disponible Kapitalvermögen des neureichen Bürgertums mit jüdischen Geldhändlern an der Spitze der wirtschaftlichen Dynamik.
Bei Emile Zola wird das alles anders. Bei ihm findet man die Gewichte des HABENS radikal verschoben. Der von den Vorfahren ererbte Besitz an Grund und Boden, dem noch Gustav Freytags heimlicheLiebe und Bewunderung gehörte, wird bei Zola nur knapp erwähnt am Rande des Geschehens, insofern mit den Einkünften aus der Landwirtschaft der einen oder anderen Nebenperson des Romans eine Sinekure ermöglicht wird. Vom mobilen Warenverkehr, für den Freytag sich seinen Sympathieträger mit dem schönen Namen Wohl-«Fahrt» ausgedacht hatte, erfährt man in Zolas Roman ebenfalls fast nichts. Bei ihm nimmt die Mobilität der Warenwelt nur in der Abstraktion der Börsenkurse am Auf und Ab des Wirtschaftslebens teil. Einzig die dritte Form des HABENS in Gestalt des frei beweglichen und strategisch jederzeit einsetzbaren Kapitals, bei Freytag eher als Störfaktor wahrgenommen, ist bei Zola ins Zentrum des Romans gerückt und kann bei ihm sogar zum Motor des ganzen Wirtschaftslebens werden. Denn das wirtschaftliche Handeln spielt sich für die Protagonisten des französischen Romans so gut wie ausschließlich an der Pariser Börse ab, als wenn diese Institution die französische Volkswirtschaft selber wäre oder sogar schon, wenigstens andeutungsweise, die Weltwirtschaft.
*
Im Mittelpunkt des Zola-Romans stehen zwei Antagonisten, die beide ihr Leben ganz nach den Spielregeln der Börse eingerichtet haben, jedoch nach Handlungsmustern, wie sie
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