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Über das Sterben

Über das Sterben

Titel: Über das Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gian Domenico Borasio
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ermitteln ist, hat die Erhaltung des Lebens absoluten Vorrang. Es darf nicht dazu kommen, dass Menschen allein wegen ihres Wachkomas als lebensmüde angesehen werden.»[ 9 ]
    Diese Stellungnahme spiegelt die Haltung der Bundesärztekammer wider und hat insoweit für Ärzte in Deutschland eine gewisse Bindungswirkung. Es muss allerdings klar sein, dass dieser Haltung keine wissenschaftliche Evidenz, sondern eine Wertentscheidung zugrunde liegt. Diese drückt sich in dem Satz aus: «In Fällen, in denen der Patientenwille nicht eindeutig zu ermitteln ist, hat die Erhaltung des Lebens absoluten Vorrang.» Dieser Satz stellt zwei Positionen als von vornherein unveränderbar gegeben vor, nämlich:
    1. Wenn der Patientenwille bei Wachkoma-Patienten nicht zu ermitteln ist, muss lebenserhaltend behandelt (und damit ernährt) werden.
    2. Der klinische Zustand eines Wachkoma-Patienten (einschließlich seiner Unveränderlichkeit) wird als «Leben» im Sinne von 1. uneingeschränkt akzeptiert.
    Damit wird auch im Grunde gesagt, dass die Schutzwürdigkeit der biologischen Existenz eines Wachkoma-Patienten auf gleicher Stufe steht wie die Schutzwürdigkeit des Lebens jedes anderen Patienten.[ 10 ] Diese Haltung wird unterstützt von den bioethischen Wertvorstellungen der großen christlichen Kirchen in Deutschland, insbesondere der katholischen Kirche. Der Vatikan hat sich im nachfolgend beschriebenen italienischen «Fall Englaro» in extremer Weise als Vertreter nicht nur eines Lebensrechtes, sondern geradezu einer Lebenspflicht von Wachkoma-Patienten hervorgetan.
    Eluana Englaro, eine junge Frau aus der Kleinstadt Lecco in Norditalien, erlitt 1992 mit 21 Jahren infolge eines Verkehrsunfalls einen schwersten Hirnschaden mit nachfolgendem Wachkoma. Als nach mehreren Jahren feststand, dass seine Tochter keine Chance zur Rückkehr in ein auch nur annähernd kommunikationsfähiges Leben hatte, hat ihr Vater, Beppino Englaro, durch alle Rechtsinstanzen hindurch versucht, den Willen seiner Tochter, der sich aus früheren Äußerungen und aus Zeugenaussagen eindeutig rekonstruieren ließ, durchzusetzen: Ein solches Leben hätte sie nie gewollt. Der Vatikan hat den Wunsch des Vaters, seine Tochter – ihrem Willen entsprechend – durch Beendigung der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr eines natürlichen Todes sterben zu lassen, mehrfach als «grausamen,unmenschlichen Mord» bezeichnet. Die Regierung Berlusconi versuchte vergeblich, durch ein Eildekret die Umsetzung des höchstrichterlichen Urteils zu verhindern, das dem Vater recht gegeben hatte. Frau Englaro starb am 9. Februar 2009 friedlich unter palliativer Begleitung in Udine. Tags darauf wurde ihr Vater von der katholischen Tageszeitung
L’Avvenire
(herausgegeben von der italienischen Bischofskonferenz) in einem Leitartikel als «Henker» der eigenen Tochter bezeichnet.[ 11 ]
    Die Diskussion über dieses und ähnliche Themen ist hierzulande massiv durch das grauenhafte «Euthanasie»-Programm der Nationalsozialisten belastet, in welchem über 100.000 psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ermordet wurden. Dass aus dieser geschichtlichen Erfahrung heraus in Deutschland jede Diskussion, welche auch nur entfernt mit dem Begriff des «lebensunwerten Lebens» in Verbindung gebracht werden kann, von vornherein mit dem Hinweis auf die Gräuel des Nationalsozialismus im Keim erstickt wird, ist nachvollziehbar, aber nicht unbedingt hilfreich.
    Aus ärztlicher Sicht ist zu sagen, dass gerade die Palliativmedizin versucht, den Menschen in seiner letzten Lebensphase in seiner Ganzheit zu sehen und die Tendenz zur Konzentration auf die Funktion einzelner Organe, die der modernen Medizin innewohnt, zu überwinden. Daher kann es aus palliativmedizinischer Sicht nicht irrelevant sein, wenn ein Mensch einen Zustand erreicht hat, der ihm eine Kontaktaufnahme zu seiner Umwelt und eine Kommunikation mit den Mitmenschen dauerhaft und unumkehrbar unmöglich macht. Bei Patienten mit langjährigem, auch durch Bildgebungsnachweis als eindeutig irreversibel festgestelltem Wachkoma stellt sich daher die Frage, ob die bloße Aufrechterhaltungeiner biologischen Existenz tatsächlich ein Therapieziel darstellen kann, das eine absolute und uneingeschränkte Verpflichtung zur zeitlich unbegrenzten künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsgabe begründet. Diese Diskussion wird uns in den kommenden Jahren weiter begleiten.

7
Die häufigsten Probleme am Lebensende (und wie man sich

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