Über das Sterben
sind im Einzelfall genau zu begründen. Dass die künstliche Flüssigkeitszufuhr immer eine medizinische Maßnahme ist, deren Indikation und Dosierung stets der aktuellen Situation des Patienten angepasst werden müssen, veranschaulicht folgendes Beispiel.
Die 88 Jahre alte zierliche Dame war mit einem Schenkelhalsbruch in die Nothilfe des großen Krankenhauses eingewiesen worden. Bei ihr war schon eine Herzklappenerkrankung bekannt. Nach Operation des Knochenbruchs verschlechterte sich ihr Zustand aufgrund eines kleinen Herzinfarkts. Sie klagte vor allem über Atemnot, und ihr Allgemeinzustand war so schlecht, dass man auch die Palliativmediziner zu Rate zog, da man mit ihrem baldigen Versterben rechnete. Auf den Röntgenbildern war deutlich Wasser in der Lunge zu erkennen, so dass die erste Frage der Menge der zugeführten Flüssigkeit galt. Die Antwort war, dass die Dame 1000 ml Flüssigkeit pro Tag als Infusion in die Vene bekomme, was angesichts der Herzerkrankung und des geringen Körpergewichts zwar etwas hoch, aber noch angemessen erschien. Allerdings offenbarte ein Blick in die Krankenakte, dass die Patientin, die nach der Operation nicht schlucken konnte, zusätzlich zu den angegebenen 1000 ml weitere 1500 ml flüssige Ernährungslösung bekam. Außerdem waren wegen der Schluckunfähigkeit alle Medikamente auf intravenöse Gabe umgestellt worden, ein jedes mit seiner eigenenkleinen Flüssigkeitsmenge (sogenannte «Kurzinfusion», meist 100 ml). Und es waren viele Medikamente, unter anderem Antibiotika, Schmerzmittel, Medikamente gegen Verschleimung und gegen Übelkeit sowie zur Verbesserung der Wasserausscheidung. Letzteres schien besonders angebracht, denn addierte man die zur Verabreichung all dieser Medikamente nötigen Flüssigkeitsmengen mit der Flüssignahrung, kamen zusätzliche 3050 ml zusammen. Die Patientin bekam also pro Tag insgesamt über 4 Liter Flüssigkeit zugeführt, was ihren schlechten Zustand unschwer erklärte. Nach Verringerung der Flüssigkeitsmenge auf weniger als ein Viertel ging es ihr rasch besser, die Atemnot verschwand, und sie konnte in eine Rehabilitationseinrichtung verlegt werden.
Künstliche Ernährung und Demenz
Patienten mit weit fortgeschrittener Demenz verlieren nach der Bewegungs- und Kommunikationsfähigkeit auch die Fähigkeit, sich ausreichend auf natürlichem Wege zu ernähren, selbst bei liebevoller Fütterung (die in den meisten Pflegeeinrichtungen wegen Personalmangels ohnehin nicht möglich ist). Spätestens zu diesem Zeitpunkt, oft aber aus pflegeökonomischen Gründen schon viel früher, wird eine künstliche Ernährung mittels eines durch die Bauchdecke direkt in den Magen führenden Schlauchs (die sog. «perkutane endoskopische Gastrostomie» oder PEG-Sonde) begonnen. Theoretisch könnte eine Nahrungs- und Flüssigkeitsgabe über die PEG-Sonde bei diesen Patienten einer ganzen Reihe von vernünftigen Behandlungszielen dienen, darunter:
– Lebensverlängerung
– Verbesserung des Ernährungsstatus
– Verbesserung der Lebensqualität
– Verbesserte Wundheilung beim Wundliegen
– Verringerung des Verschluckens
Diese Ziele wären, jedes für sich, grundsätzlich sehr erstrebenswert. Leider sagen aber die gesamten wissenschaftlichen Studien, die es zu diesem Thema gibt, dass kein einziges dieser Therapieziele mit der Anlage einer PEG-Sonde bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz zu erreichen ist.[ 5 ] Stattdessen sind unter anderem das Infektionsrisiko und die Sterbehäufigkeit bei Demenzpatienten mit PEG deutlich erhöht.
Das Legen einer PEG-Sonde ist folglich bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz nicht nur unwirksam, sondern schädlich.
Sie darf daher nach den Regeln der modernen, evidenzbasierten (= auf wissenschaftlichen Daten beruhenden) Medizin nicht angewendet werden. Professor Volicer aus Boston, einer der renommiertesten Experten auf diesem Gebiet, stellte schon 2004 fest: «Dieses Ungleichgewicht zwischen Belastung und Nutzen der künstlichen Ernährung erlaubt die Empfehlung,
dass künstliche Ernährung bei Patienten mit fortgeschrittener Demenz grundsätzlich nicht angewendet werden sollte.»
[ 6 ]
Trotzdem werden pro Jahr in Deutschland über 100.000 PEGs neu gelegt, die meisten davon bei Pflegeheimpatienten, von denen über 70 % dement sind. Betrachtet man dies gemeinsam mit den in Kapitel 7 beschriebenen Gepflogenheiten bezüglich der Gabe von Flüssigkeit und Sauerstoff in der Sterbephase, kommt man leider nicht
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