Über das Sterben
Durstgefühl in der Sterbephase nämlich nicht mit der Menge der zugeführten Flüssigkeit, sondern mit dem Grad der Trockenheit der Mundschleimhäute zusammen. Ebenso wenig bringt die Gabe von Sauerstoff bei Sterbenden, denn die Verflachung der Atmung ist ein physiologisches Zeichen der Sterbephase und kein Zeichen der Atemnot. Damit dient die Sauerstoffgabe keinem vernünftigen Zweck, da es gar kein Symptom gibt, das es zu lindern gälte.[ 3 ]
Zweitens:
Sie schaden den Patienten. Es wäre nicht so schlimm, wenn diese zwei Maßnahmen für die geplanten Zwecke lediglich ungeeignet wären. Das ist auch bei vielen anderen medizinischen Therapien der Fall, die zudem oft wesentlich teurer sind. Leider hat aber jede noch so einfache medizinische Maßnahme auch Nebenwirkungen: Die Gabe von Sauerstoff über eine Nasenbrille trocknet die Mundschleimhäute aus, so dass dadurch tatsächlich ein qualvolles Durstgefühl entstehen kann, und zwar unabhängig von der Menge der zugeführten Flüssigkeit. Diese wiederum muss über die Niere ausgeschieden werden. Die Niere ist aber das Organ, das im Verlauf der Sterbephase mit als Erstes seine Funktion einschränkt bzw. einstellt. Dadurch kann die zugeführte Flüssigkeit den Körper nicht mehr verlassen und wird in die Gewebe eingelagert, insbesondere auch in die Lunge. Dies führt zum Lungenödem und dadurch zu Atemnot.
Mithin bringen die wohlgemeinten Maßnahmen zur Vermeidung von Verdursten und Ersticken in der Sterbephase genau jene qualvollen Symptome erst richtig hervor, die sie eigentlich verhindern sollten.
Medizinische Übertherapie
Ärzte tun sich nachweislich psychologisch schwer, einmal begonnene Therapien zu beenden. Sie tun sich auch sehr schwer, einem schwerstkranken Patienten «nichts anzubieten». Das sind die Hauptgründe für eine Vielzahl unnötiger und oft nebenwirkungsreicher Therapien am Lebensende. Hinzu kommt die Tendenz der Pharmaindustrie (vor allem, aber nicht nur im Bereich Onkologie), manche Medikamente auf der Basis von zumindest fragwürdigen Studien anzupreisen.[ 4 ]
Es ist verständlich, dass die meisten Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen die Neigung haben, nach jedem Strohhalm zu greifen, der ihnen angeboten wird. Es ist aber unethisch, ihnen Strohhalme anzubieten, die gar keine sind. Die Asymmetrie des Arzt-Patienten-Verhältnisses tritt hier besonders deutlich zutage. Im Wissen um die Verzweiflung und Verletzbarkeit schwerstkranker Patienten ist es Aufgabe des Arztes, sinnlose oder potentiell schädliche Alternativen gar nicht erst vorzuschlagen bzw. auf Nachfrage klar als solche zu benennen. Leider bieten immer noch einige Ärzte ihren Patienten Medikamente (z.B. Chemotherapien) an, von denen sie hinter vorgehaltener Hand dann sagen, dass sie diese Therapien weder für sich selbst noch für die eigenen Angehörigen in der gleichen Situation in Betracht ziehen würden. Dies geschieht durchaus in guter Absicht, um dem starken Therapiewunsch der meisten Patienten zu entsprechen – aber unbewusst auch, um eigene Gefühle des Versagens und der Hilflosigkeit zu vermeiden, die sich bei der Mitteilung des Fehlens weiterer lebensverlängernder Therapiemöglichkeiten einstellen könnten.
Es ist schwer, der Falle der Übertherapie zu entgehen. Patienten klammern sich an die suggerierte Resthoffnung, und Angehörige möchten auf keinen Fall hinterher mit dem Eindruck leben, dem Kranken eine möglicherweise wirksame Therapie «vorenthalten» zu haben. Zwei Strategien bieten sich hier an: eine kurzfristige für den Einzelfall, eine mittel- bis langfristige auf gesellschaftlicher Ebene.
Die kurzfristige Strategie: Fragen Sie immer nach, welche Studien die Entscheidung des Arztes für eine bestimmte Therapie begründen (siehe oben). Fragen Sie auch nach, welche Alternativen es aus seiner Sicht gibt, und fragen Sie ihn, ob er dieselbe Therapie in der gleichen Situation auch für sich selbst oder seine engsten Angehörigen empfehlen würde. Fragen Sie ihn, ob er die Arbeit von Temel und Mitarbeitern kennt (siehe nachfolgenden Abschnitt), welche die Überlegenheit der Palliativmedizin bei fortgeschrittenem Krebsleiden nicht nur hinsichtlich der Lebensqualität, sondern auch bezüglich der Lebensdauer nachgewiesen hat. Bitten Sie, wo die Möglichkeit besteht, um eine palliativmedizinische Beratung.
Die mittel- bis langfristige Strategie auf gesellschaftlicher Ebene: eine bessere Aus-, Fort- und Weiterbildung der Ärzte im Fach Palliativmedizin
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