Ueber Den Deister
ihm noch etwas Wichtiges einfiele, was er sie fragen wolle. Sie zögerte. Marder wies darauf hin, dass es sich bei seinem Anliegen um eine Ermittlung in einem Fall mit möglicherweise kriminellem Hintergrund handelte. Da gab sie nach und schrieb ihre Nummer auf ein Stück Papier.
»Aber machen Sie keinen Unsinn mit dieser Nummer, mein Mann hat es nicht gern, wenn ich meine Telefonnummer fremden Männern gebe.«
Sie machte ein strenges Gesicht.
Marder ging zur Weser und setzte sich auf eine Bank. Er nahm sein Handy aus der Tasche und wählte Volkerts Nummer, die Frau Bistorf-Kuntze für ihn herausgesucht hatte. Nach ein paar Sekunden erklärte ihm eine herzlose Computerstimme, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht zu erreichen sei.
Kapitel 1 0
Als Marder Holzminden verließ, krauchten die ersten Schatten die östliche Seite der Hügel an der Weser hinauf. Die Hitze des Tages hatte alles ermattet, was von den unerbittlichen Strahlen der Sonne getroffen wurde. Selbst das Wasser wirkte trocken und quälte sich den Fluss hinunter, als wolle es sich in seinem Bett am liebsten zum Schlafen legen.
Marder brauchte eine Pause. Einmal nicht über Vera und Volkert nachdenken. Er schaltete das Autoradio ein. Er suchte NDR 1 und hoffte auf Oldies aus den Sechzigern und Siebzigern: Beatles, Simon and Garfunkel, Cat Stevens oder Lieder von dem Amerikaner, der so gern auf Country Roads durch die Rocky Mountains kutschierte. Das war Musik, bei der er sich entspannen konnte, gleichzeitig erinnerte sie ihn an seine wilden Zeiten mit den Mädchen, die nach den Maßstäben von heute überhaupt nicht besonders wild gewesen waren. Auf dem Sender lief Volksmusik. Statt Pop und Rock in Englisch bekam er Liebe und Triebe, Sonne und Wonne, Herz und Schmerz in Deutsch.
Bei Bodenwerder hatte er genug davon und wechselte zu NDR 2 auf der Suche nach flotter Schlagermusik aus den Achtzigern und Neunzigern. Wieder lag er daneben. Musikgruppen mit kreativen Namen schlugen unkreativ auf ihre Instrumente ein, das war die hektische unmelodische Musik der Post-Disko-Generation, die ihm keine Zweifel daran erlaubte, dass er ein alter Mann geworden war.
Hastig, noch vor Hameln, wechselte er zu NDR 3, dem Sender für klassische Musik. Er war sich sicher, damit konnte er keinen Fehler machen: Mozart, Bach, Grieg, Beethoven oder die Herren Strauß aus Wien wurden hier den ganzen Tag in leicht verdaulichen Happen serviert. Leider nicht heute. Es lief die Live-Übertragung eines Konzerts mit Werken des einundzwanzigsten Jahrhunderts aus der Hamburger Musik-halle, die jedoch nicht mehr so hieß. Sie war nach einem Sponsor umbenannt worden, ebenso wie Fußballstadien oder Eishockeyhallen, eine kaum zu verzeihende Banalisierung der Kultur im Land der Dichter und Denker. Die Musik war nicht das, was Marder unter Klassik verstand. Es waren Tonfolgen, bei denen er keinen Takt und erst recht keine Harmonien erkennen konnte. Er fand diese Geräusche unverdaulich, zwang sich jedoch, zuzuhören, weil er nicht eingestehen wollte – nicht einmal sich selbst –, dass er moderne Musik nicht verstand. Während er sich über sich ärgerte, vergaß er, nach Hameln einzubiegen. Der Rattenfänger und seine Stadt waren Jahrhunderte ohne ihn ausgekommen, sie würden Marders Besuch auch heute nicht vermissen.
Schließlich konnte er die Musik aus Hamburg nicht länger ertragen und wechselte zu NDR 4: Nachrichten den ganzen Tag – auch an Tagen, an denen nichts Berichtenswertes geschah. Marder hörte aufmerksam zu und wusste nach einer Viertelstunde alles, was an diesem Tag in Deutschland und in der Welt passiert war. Als sich die Nachrichten zu wiederholen begannen, ohne dass sich etwas Neues ereignet hatte, machte er das Radio aus. Nun hörte er nur das Summen der Räder auf dem Asphalt und den leisen Gesang der Klimaanlage. Es würde bis Barsinghausen noch eine gute halbe Stunde dauern.
Welchen Sender hatten wohl Vera und Volkert auf ihrer langen Autofahrt in den Norden gehört? Vera zog vermutlich leichte klassische Musik vor, Operetten oder romantische Symphonien, als Alternative vielleicht die Stones in ihren frühen Jahren, ganz bestimmt die Beatles.
Zu Volkert schien überhaupt keine Musik zu passen. Eventuell Trommeln und Marschmusik. Marder vermutete, dass der Kommissar sich mit der endlosen Nachrichtenschleife mit Staumeldungen und Wetterberichten begnügte. Es fiel Marder schwer, sich irgendetwas Positives in Verbindung mit Volkert vorzustellen. Gut, dass
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