Ueber den Himmel hinaus - Roman
hier. Und als er hatte, was er wollte, ist er wieder abgehauen. Irgendwann wirst du erkennen, dass wir ohne ihn besser dran sind.«
Lena konnte den Anblick ihrer Schwester, ihr gepflegtes Haar, ihre schlanke, glamouröse Gestalt nicht mehr ertragen. »Das hast du ja fein hingekriegt. Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden.«
»Es ist besser so. Du bist so verletzlich. Ich musste dich beschützen.«
»Ich bin kein Kind mehr!«
»Herrgott noch mal, Lena. Er hat das Geld genommen. An den zehntausend Pfund lag ihm mehr als an dir.«
Ihre Worte hingen noch eine Weile in der Luft. Lena weigerte sich, Natalja zu glauben. Es musste mehr dahinterstecken.
Er würde sich bei ihr melden, ihr alles erklären. Und bis dahin wollte sie kein Wort mehr von ihrer verräterischen Schwester hören.
»Ich fahre nach Hause«, presste sie hervor. »Das Treffen ist beendet.«
KAPITEL 30
Binnen zwei Monaten hatten Sofi und Julien mit Nikita sechs verschiedene Ärzte konsultiert. Jeder hatte Fragen gestellt, den Kopf geschüttelt, keiner wollte sich auf eine Diagnose festlegen.
»Er ist noch sehr klein«, hatte es geheißen.
»Kommen Sie in einem Jahr wieder.«
»Ich bin nicht sicher, holen Sie lieber noch eine andere Meinung ein.«
Nachdem man sie so oft beschwichtigt und vertröstet hatte, hegte Sofi insgeheim die trügerische Hoffnung, dass mit Nikita doch alles in bester Ordnung war. Doch sie konnte die Augen nicht mehr vor den Tatsachen verschließen, seit Lena sie auf die Symptome aufmerksam gemacht hatte.
Bei Dr. Louis Anjou, einem auf Sozialpädiatrie spezialisierten Kinderarzt - angeblich der Beste seines Faches im ganzen Land -, hatten sie kurzfristig einen Termin bekommen, weil ein anderer Patient ausgefallen war. Sofi hatte zum Frühstück mit Müh und Not eine halbe Scheibe Toast heruntergewürgt, die ihr hartnäckig in der Speiseröhre zu stecken schien. Julien dagegen hatte sich seelenruhig Kaffee, Toast und sogar ein Spiegelei gegönnt.
Dr. Anjou stellte ihnen die üblichen Fragen, beobachtete Nikita eine Weile, unterzog ihn diversen Tests, dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und kritzelte etwas auf seinen Notizblock.
Sofi wartete ab. Das Ticken der Uhr kam ihr ohrenbetäubend laut vor. Als Julien ihre Hand drückte, lächelte sie matt. Vielleicht bewegte sich Nikitas Verhalten nach Ansicht von Dr. Anjou ja doch im Bereich des Normalen.
Der Arzt legte den Stift beiseite und sah sie an. Sofi hielt den Atem an und sammelte sich, um auch jedes Wort in der fremden Sprache zu verstehen.
»Es ist eindeutig Autismus.«
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie weinen würde, doch jetzt liefen ihr große, heiße Tränen über das Gesicht. Dr. Anjou hielt ihr geduldig eine Box mit Papiertüchern hin. Dann fuhr er fort, und Julien stellte Fragen, doch Sofi hatte in ihrem Kummer den Faden verloren. Schluchzend nahm sie Nikita auf den Schoß. Er beachtete ihre Tränen nicht. Sie versuchte, sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren.
»Noch kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob die Krankheit Auswirkungen auf seine sprachlichen Fähigkeiten haben wird. Die Tatsache, dass er alles wiederholt, lässt jedenfalls darauf schließen. Er benennt die Dinge nicht, sondern plappert nur nach, was man ihm vorsagt, ohne den Sinn zu erfassen.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, unterbrach ihn Sofi.
»Fragen Sie Nikita, ob er etwas trinken möchte«, sagte der Arzt geduldig.
»Nikita?«, fragte sie. »Willst du etwas trinken?«
»Was trinken?«, erwiderte er in exakt demselben Tonfall.
Sie musterte den Arzt vorwurfsvoll. »Sehen Sie?«
»Ich fürchte, Sie verstehen nicht. Er hat lediglich Ihre Worte wiederholt. Wenn Sie ihm nichts zu trinken geben, wird er nicht quengeln oder weinen, weil er nämlich gar nicht wirklich trinken wollte.«
Sofi wartete ab. Der Arzt hatte recht.
Julien streichelte ihr über das Haar. »Keine Sorge, Liebes. Wir schaffen das.«
Sofi brachte kein Wort heraus. Julien hatte leicht reden. In einem Monat reiste er nach Australien.
»Können wir irgendetwas tun?«, erkundigte sich Julien.
»O ja.« Dr. Anjous Augen blitzten auf. »Eine ganze Menge sogar. Viele Ärzte würden behaupten, Nikita sei ein hoffnungsloser Fall, aber da muss ich entschieden widersprechen. Nikita ist ein sanfter, kluger Junge und könnte sich, wenn man ihn früh fördert, hervorragend entwickeln.«
Sofi schöpfte neue Hoffnung. »Heißt das, er könnte geheilt werden?«
»Nein, das nicht, aber in
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