Ueber den Himmel hinaus - Roman
einigen Fällen kann man die Krankheit einigermaßen in den Griff bekommen.« Er nahm erneut seinen Notizblock zur Hand. »Ich schreibe Ihnen einige hilfreiche Bücher zum Thema auf.«
Gegen Ende des Gesprächs hatte Sofi noch eine letzte Frage. »Dr. Anjou«, sagte sie mit bebender Stimme. »Wird mich Nikita jemals lieben?«
Sie registrierte aus den Augenwinkeln, wie sich Julien abwandte und mit den Fingern in den Nasenrücken kniff, um nicht in Tränen auszubrechen. Der Arzt ergriff ihre Hand.
»Jedes autistische Kind ist anders. Ich kann Ihnen noch nicht mit Sicherheit sagen, was diese Diagnose für Nikita und seine Zukunft bedeutet. Aber es ist durchaus möglich, dass er sie liebt, auch wenn er es nicht zeigen kann.«
Nach dem Gespräch setzten sie sich in ein Café im Quartier Les Halles. Nikita saß auf Sofis Schoß und spielte glücklich mit einem Strohhalm. Nein, nicht glücklich. Sofi musste zugeben, dass sie nicht mehr wusste, ob Nikita zufrieden war oder nur in seine eigene Welt vertieft. Sofi sann über ihre Lage nach. Als ihr schließlich die Lösung einfiel, war sie überrascht, dass sie nicht schon längst darauf gekommen war.
»Soll ich Sydney abblasen?«, fragte Julien.
»Nein«, antwortete sie, ohne zu zögern.
»Was ist mit deinem Großauftrag? Nikita wird sehr viel Aufmerksamkeit benötigen …«
»Du meinst, wer von uns soll beruflich zurückstecken?«
»Genau das meine ich.«
Sofi fand es befremdlich, dass es ihm offenbar nicht weiter schwerfiel, sie allein zu lassen. Dass er in Zeiten wie diesen nicht bei ihnen sein wollte. Andererseits gehörte das nun einmal zu seiner Arbeit.
»Keiner von uns muss zurückstecken«, sagte sie. »Ich habe eine Idee.«
»Und zwar?«
»Ich werde nach Russland fahren und meine Mutter holen.«
Anfang Januar begannen die Renovierungsarbeiten, aber weder Natalja noch Rupert fühlten sich sonderlich gestört davon. Sie verließen die Wohnung meist frühmorgens, und wenn sie abends vom Set nach Hause kamen, hatten die Handwerker eine Wand eingerissen, die Beleuchtung ausgetauscht oder den Einbauschrank mit neuen Türen versehen. Es dauerte ganze zwei Wochen, bis Natalja den Sohn des Schreiners wiedersah.
Sie wurde an diesem Tag nicht am Set gebraucht und zog sich ins Schlafzimmer zurück, um ihren Text zu lernen, während Marcus die Küche auseinandernahm. Rupert lief geschäftig mit dem schnurlosen Telefon in der Wohnung umher und vereinbarte Termine. Plötzlich hörte sie ihn draußen fragen: »Wer sind Sie denn?«
»Ich bin Marcus, John Pringles Sohn.«
»Ah. Ich dachte, John würde die Arbeit selbst erledigen.«
»Er hat aufgehört. Er wird allmählich zu alt.« Marcus lachte, was Natalja zusammenzucken ließ. Marcus’ Vater war genauso alt wie Rupert.
Gleich darauf stand Rupert in der Tür. »Komm, wir gehen in die Stadt. Dieser Krach ist ja nicht auszuhalten.«
Er scheuchte sie aus der Wohnung, als wäre sie eine preisgekrönte Zuchtkuh, die niemand außer ihm sehen durfte. Als sie an Marcus vorbeikamen, rief dieser fröhlich »Hallo!«, doch Natalja war klug genug, nichts zu entgegnen.
Die Renovierung der Küche dauerte eine Woche, und Rupert erfand nun jeden Tag eine neue Ausrede, um gemeinsam mit Natalja die Wohnung zu verlassen. Natalja erhaschte gelegentlich einen Blick auf Marcus, wechselte jedoch kein Wort mit ihm. Sollte er sie doch unhöflich finden, solange nur Rupert nicht den Eindruck bekam, sie würde mit Marcus flirten.
Natalja war erleichtert, als die Küche endlich fertig und Marcus verschwunden war. Als Nächstes kamen die Elektriker und installierten neue Geräte. Der Hochzeitstermin rückte näher, und es gab unendlich viel zu tun. Blumengestecke, Platzkarten, Speisen und Kirchenlieder mussten ausgesucht werden. Natalja hätte sich gern mit Lena beraten, doch die weigerte sich, mit ihr zu reden. Natalja hatte
drei- oder viermal heimlich mit Sam telefoniert, um sich zu erkundigen, ob sich ihre Schwester schon etwas beruhigt hatte. Er hatte stets bedauernd verneint und versprochen, ein Auge auf Lena zu haben. Nach wie vor der perfekte Ehemann. Es war das erste Mal, dass Lena so wütend auf sie war. Woche um Woche verging, und es sah nicht danach aus, als würde sich die Angelegenheit von allein wieder einrenken. Wie hatte ihr verfluchter Vater es nur geschafft, mit einem einzigen kurzen Besuch so viel Unheil anzurichten?
An einem Tag im März, etwa vier Monate vor der Hochzeit, hatte sich Natalja für ihre zweite
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