Ueber den Himmel hinaus - Roman
»Aber sag ihnen nichts; es soll eine Überraschung werden.«
Mama betrachtete die Halskette eingehend. Die blauen Steine passten zu Nataljas blauen Augen. »Hervorragende Arbeit. Du musst sehr viel Zeit darauf verwendet haben, dir diese Fähigkeiten anzueignen.«
»Ja, aber es macht mir großen Spaß.«
Mama reichte ihr die Halskette. »Du vernachlässigst darüber doch hoffentlich nicht dein Studium?«, fragte sie und hob eine Augenbraue, und dann hielt sie Sofi den üblichen Vortrag darüber, wie wichtig es war, einen sicheren Arbeitsplatz zu haben. Sie sagte, sie sei froh, die vergangenen zwanzig Jahre eine zuverlässige Anstellung gehabt zu haben, die es ihr ermöglicht hatte, ihre Familie selbst in den schwierigsten Zeiten zu ernähren.
Sofi nickte dann und wann artig und konnte es kaum erwarten, sich wieder ihrer Arbeit zu widmen.
»Langweilst du dich denn nicht in der Bäckerei?«, wagte sie schließlich zu fragen. »Du machst tagaus tagein dasselbe … Keine Versetzung, keine Beförderung …«
»Ich werde dort gebraucht«, erwiderte Mama fest. »Und meiner Meinung nach gibt es im Leben kaum etwas Wichtigeres. Jeden Tag kommen die Menschen zu mir, um Brot zu kaufen. Was sollten sie tun, wenn die Bäckerei schließen müsste, nur weil ich keine Lust habe zu arbeiten?« Sie schüttelte den Kopf. »Entschuldige, meine Migräne hat mir auf die Stimmung geschlagen. Ich sollte mich besser hinlegen und dich in Ruhe lassen.«
»Brauchst du irgendetwas?«
»Nein, nein. Es geht mir bestimmt bald besser.« Mama zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, und Sofi machte sich daran, die Ösen mit zwei Zangen miteinander zu verbinden. Diese drei Halsketten, verziert mit den Bergkristallen, die Natalja ihr geschenkt hatte, sollten Glücksbringer werden.
Glück, dachte Sofi. Was für eine naive Vorstellung. Genau wie all die albernen, abergläubischen Regeln, die ihre Mutter peinlich genau einhielt: dass man keine scharfen Gegenstände verleihen, niemandem über eine Türschwelle hinweg die Hand schütteln und sich an Prüfungstagen nicht die Fingernägel schneiden durfte. Sie brauchte kein Glück. Wenn sie Goldschmiedin werden wollte, brauchte sie Geld für die Rohmaterialien, und sie musste in einem Land leben, in dem es einen Markt für ihre Produkte gab. Wenn sie hierblieb, würde sie den Rest ihres Lebens Bodenproben auswerten. Sie wollte in den Westen, wie Natalja und Lena, wenngleich sie sich nicht in Fantasien über ein Filmstardasein erging.
Allerdings würde Mama dann allein zurückbleiben. Bei dem Gedanken hielt sie kurz inne, doch sie schob ihr schlechtes Gewissen beiseite. Alles zu seiner Zeit. Erst galt es, gründlich darüber nachzudenken und Möglichkeiten auszuloten. Sie würden schon einen Weg finden, um ihren Träumen Flügel zu verleihen.
Im riesigen Gewölbe der Metrostation Gostiny Dwor stach Natalja ein attraktiver Bursche in ihrem Alter ins Auge, der seine Taschen nach Kleingeld absuchte. Sie war auf dem Weg nach Hause und schon spät dran. Eigentlich wäre sie lieber bei Tolja und seinen Freunden im Park geblieben, um weiter mit ihnen Wodka aus der Flasche zu trinken und selbst gerollte Zigaretten zu rauchen. Doch Lena brannte darauf, ihr heute Abend ihren Freund vorzustellen, und sie wollte sie nicht enttäuschen. Und dann lief ihr dieser junge Kerl über den Weg; ein Mann ganz nach ihrem Geschmack, mit kräftiger Statur und lebhaftem Blick. Sie hatte ihn schon fast wieder vergessen, als er sich in der U-Bahn
direkt gegenüber von ihr niederließ. Es war Samstagnachmittag, es waren kaum Passagiere unterwegs. Wo hätte sie hinsehen sollen, wenn nicht in seine Augen? Er starrte ungeniert zurück, und je länger die Fahrt dauerte, je mehr Leute ausstiegen, desto heftiger flirteten sie miteinander. Neben Natalja saß eine Mutter mit einem rotgesichtigen Säugling, der vor sich hin wimmerte und lallte, doch sie hörte es kaum. Als die beiden endlich ausstiegen, grinste der Bursche. Natalja grinste zurück. Er erhob sich und setzte sich neben sie, den zusammengelegten Mantel auf dem Schoß, den Oberschenkel gegen ihren gepresst. Es fühlte sich an, als würde er durch den Rock hindurch ihre Haut versengen.
Außer ihnen befand sich in ihrem Abteil jetzt nur noch eine alte Frau mit einem blauen Kopftuch, die vor sich hin döste. Ein Kontrolleur mit langem grauem Mantel und Pelzmütze schritt den Mittelgang entlang und begab sich dann in den nächsten Waggon. Natalja registrierte eine Bewegung
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