Ueber den Himmel hinaus - Roman
sie darauf wartete, dass Lena aus dem Hotel kam. Es war Montag, Lenas erster Arbeitstag nach dem Wochenende. Sie hatte sich vorgenommen, Konstantin zur Rede zu stellen, weil er am Samstag nicht zum Abendessen gekommen war. Natalja konnte seine Reaktion nicht einschätzen. Sie hatte ihm befohlen, sich gefälligst diskret zu verhalten, aber Lena würde trotzdem ein Häufchen Elend sein. Deshalb hatte Natalja ihren Boss bekniet, sie früher gehen zu lassen, damit sie für ihre Schwester da sein konnte.
Sie legte den Kopf in den Nacken und stieß den Rauch aus. Ein gedrungener Kerl in Arbeiterkluft ging vorüber und starrte sie an. Natalja tat, als würde sie es nicht bemerken. Sie fühlte sich seltsam schuldig, weil sie so viel Aufmerksamkeit erregte. Der unheilvolle Zwischenfall mit Konstantin machte ihr schwer zu schaffen. Sobald ihr klar gewesen war, mit wem sie es zu tun hatte, war sie aufgesprungen und hatte ihm aufgebracht Vorhaltungen gemacht. Sie hatte ihm eingeschärft, sich künftig sowohl von
ihr als auch von ihrer Schwester fernzuhalten, hatte ihm mit ihren Freunden aus dem Secondhandladen gedroht und verlangt, er solle möglichst behutsam mit Lena Schluss machen und das Geschehene mit keiner Silbe erwähnen. Sie hatte alles getan, um ihren Fehler wiedergutzumachen, doch sie konnte die Zeit nicht zurückdrehen. Es war nicht ihre Schuld gewesen; sie hatte nicht vorgehabt, Lena den Freund auszuspannen, doch genau das hatte sie getan.
Als Natalja ihre Schwester aus dem riesigen Portal des Hotels treten sah, rief sie ihren Namen und winkte.
Lena kam auf sie zu. »Was machst du denn hier?«, fragte sie argwöhnisch.
»Ich war heute schon früher fertig, also dachte ich, ich hole dich ab … Wie ist es mit Konstantin gelaufen?«
»Es geht ihm gut, natürlich.« Lena zuckte resigniert mit den Schultern.
»Und?«
Lenas Unterlippe begann zu zittern, genau wie früher, wenn sie den Tränen nahe gewesen war. Natalja nahm sie in den Arm und streichelte ihr über den Kopf.
»Schon gut, Lena«, murmelte sie. »Nicht weinen.«
»Gar nichts ist gut. Er sagt, er hätte es sich anders überlegt. Er will nichts mehr von mir wissen.«
»Dann ist er ein Schwein, und du bist ohne ihn besser dran.«
»Ich weiß. Es ist nur … Ich komme mir so dumm vor.«
Natalja spürte, wie ihr Lenas heiße Tränen in den Halsausschnitt liefen, und sie konnte nichts weiter tun, als ihre Schwester im Arm zu halten und gegen die Schuldgefühle anzukämpfen, die in ihrem Inneren brodelten.
Sie schwor sich, in Zukunft besser aufzupassen.
So etwas durfte nie wieder vorkommen. Nie wieder.
KAPITEL 4
1992
Sofi war schon unzählige Male an den weiß gestrichenen Fenstern der Ehevermittlung in der zweiten Etage vorbeigegangen. Wenn sie die Treppe zum Büro des Bergbauunternehmens hinaufstieg, für das sie arbeitete, stand die hellblonde Angestellte mit den langen roten Fingernägeln und dem gezwungenen Lächeln oft vor der Agentur und rauchte. Sofi hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, was für eine Art von Unternehmen die American Bride Agency war. Doch heute ging sie nicht vorbei. Vorsichtig warf sie einen Blick nach rechts und links, um sicherzugehen, dass keiner ihrer Arbeitskollegen sie beobachtete, dann stieß sie die Tür auf und ging hinein.
Die Idee war ihr vor zwei Tagen gekommen, nach dem Treffen mit Anja Bletsky, einer Kommilitonin aus dem ersten Studienjahr. Anja hatte das Studium nie beendet, und irgendwann hatten sie sich aus den Augen verloren. Sie hatte mehrere Jahre nichts von sich hören lassen, um dann plötzlich anzurufen und ein Treffen in einer Pizzeria vorzuschlagen.
Sofi war etwas zu früh dran gewesen und studierte bereits die Karte, als zwei parfümierte Arme sie plötzlich von hinten umschlangen. Sie hob den Kopf.
Anja hatte weißblonde Strähnchen, war elegant gekleidet und trug eine Menge glitzernden Schmuck. Sie hatte abgenommen, und mit der Rundlichkeit waren auch die Grübchen in ihren Wangen verschwunden. Ihre Schultern wirkten knochig. Sie war nicht allein. Sofi wunderte sich
gerade darüber, dass sie ihren Vater mitgebracht hatte, als Anja ihren Begleiter als ihren Ehemann Barry vorstellte und hinzufügte, er komme aus den USA und spräche kein Russisch. Sie einigten sich darauf, Englisch zu reden und bestellten zweimal Pizza zum Teilen.
Es dauerte ein Weilchen, bis die beiden mit ihrer Geschichte herausrückten. Sie lebten in Seattle und waren nach Russland gekommen, um Anjas Mutter zu
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