Ueber den Himmel hinaus - Roman
gewesen.
Sie hatte mit Kopfschmerzen, Übelkeit, zitternden Händen gerechnet, doch all das war ausgeblieben. Stattdessen hatte sie akute Angstzustände bekommen. Ständig waren ihr verstörende Gedanken durch den Kopf gegangen: Was, wenn sich Sam wieder heimlich Geld von Tony lieh? Wenn eines der Kinder krank wurde und eine Operation benötigte, die sie sich nicht leisten konnten? Wenn sie gefeuert wurde, weil herauskam, dass sie ein Alkoholproblem hatte? Von Panik gebeutelt hatte sie sich im Schlafzimmer verschanzt.
Nur ein Glas des billigen Weines, den sie unter dem Bett versteckt hatte, würde ihre Sorgen vertreiben … Es war doch verrückt, von einem Tag auf den anderen aufzuhören. Sie sollte den Entzug lieber langsam angehen.
Sie versperrte die Tür und bückte sich, um den alten Koffer unter dem Bett hervorzuholen, öffnete den Reißverschluss und klappte den Deckel auf. Da waren sie. Drei Flaschen des billigsten Fusels, den sie hatte auftreiben können, zwischen den Babysachen der Zwillinge.
Als sie nach einer davon griff, streifte sie einen weichen, winzigen Strampelanzug, hellblau mit dünnen weißen Streifen. Von Schuldgefühlen geplagt, hielt sie inne und hob ihn hoch. Es war eines der ersten Kleidungsstücke, die Wendy für Matthew gekauft hatte. Lena wurde übel, als sie darauf einen Rotweinfleck erspähte.
Sie dachte an Grandad und das Versprechen, das sie ihm gegeben hatte.
Sie nahm die drei Flaschen, ging ins Bad und kippte den Inhalt ins Waschbecken. Dann schnappte sie sich das Bleichmittel, um mit heftig pochendem Herzen die roten Flecken und den Geruch zu beseitigen.
Wendy lugte zur Tür herein. »Lena?«
»Verdammter Schimmel«, murmelte Lena, ohne aufzusehen.
»Wie wär’s mit einem Gläschen?«
Lena war zu fahrig, um mit Wendy auf dem Sofa zu sitzen und zu tratschen. Sie zwang sich zu lächeln. »Danke, aber ich gehe jetzt ins Bett.«
Wendys Mundwinkel wanderten nach unten. »Dann eben ein andermal.«
Lena wusch sich die Hände, ging zurück in ihr Zimmer und legte sich ins Bett. Mit zitternden Fingern griff sie nach dem fleckigen Strampelanzug und hielt sich daran fest, wie ein Ertrinkender auf hoher See an einer Rettungsleine.
KAPITEL 35
Das Telefon klingelte zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Mama war mit Nikita unterwegs, und Sofi war in Eile; Julien war bereits ziemlich kurz angebunden. Er hasste Fliegen, weshalb er stets darauf bestand, schon Stunden vor dem Start am Flughafen zu sein, um sich in einer Bar noch ein paar Gläser Whisky zur Nervenberuhigung zu genehmigen.
Sofi überlegte, nicht abzunehmen, fürchtete aber, womöglich einen wichtigen Anruf zu verpassen.
»Hi, hier ist Natalja.«
»Hallo! Tut mir leid, ich muss Julien zum Flughafen bringen. Ich rufe dich heute Abend oder morgen zurück, ja?«
Wie üblich redete Natalja einfach weiter, als hätte sie es nicht gehört. »Ich mach’s kurz. Man hat mir endlich das Geld von meinem Vertrag ausbezahlt, und jetzt überlege ich, was ich damit machen soll. Du bist gut in solchen Dingen.«
Das war Sofi in der Tat. Sie hatte das Geld, das sie als Nataljas Managerin verdient hatte, von Anfang an gewinnbringend angelegt und so weit vermehrt, dass sie damit Nikitas Behandlungen finanzieren konnte. »Investier es«, sagte sie. »Such dir einen guten Börsenmakler.«
»Kennst du zufällig einen? In London?«
Julien bedeutete ihr, endlich aufzulegen.
»Welche Aktien kannst du mir denn empfehlen?«, fuhr Natalja fort. »Im Moment bin ich arbeitslos; es sollte also etwas sein, das eine Menge einbringt.«
Sofi wusste, woher der Wind wehte: Natalja ließ sich lieber von ihr beraten als von einem Börsenmakler, weil sie einem Fremden gegenüber nur ungern zugab, dass sie seine Erläuterungen nicht verstand. »Kann das nicht warten, Natalja? Du solltest lieber nichts überstürzen.«
»Ich überstürze nichts. Gib mir einfach ein paar Tipps, dann mache ich mich schlau, genau wie du das tun würdest.«
»Wie du meinst. Bei mir haben in letzter Zeit die Technologieaktien große Gewinne abgeworfen. Sieh dich nach Internetfirmen um.«
»Sonst noch etwas, das ich wissen müsste?«
»Streu deine Investitionen; setz nicht alles auf eine Karte.
« Sofi wiederholte das Gesagte sicherheitshalber auf Russisch.
»Aber soll ich …«
»Tut mir leid, Natalja, ich muss los. Ruf mich morgen an, dann sprechen wir ausführlicher darüber.«
Julien, der bereits an der offenen Tür stand, trieb sie erneut zur Eile an. Ihr
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