Ueber den Himmel hinaus - Roman
Ein Low-Budget-Kunstfilm, für den sie gegen einen Hungerlohn in Sankt Petersburg drehen müsste. Ausgeschlossen. Es wäre ihr vorgekommen, als hätte sie kapituliert und würde mit eingezogenem Schwanz nach Hause zurückkehren.
Die Möbelpacker würden erst in einer Stunde kommen. Natalja hatte sich zur Aufheiterung eine Illustrierte gekauft, mit der sie sich nun aufs Sofa setzte. Auf Seite fünf starrte sie ihr entgegen: die Anastasia -Werbung. Zwei volle Seiten, eine davon sogar ausklappbar. Eine junge Schauspielerin - wie hieß sie noch gleich, Olivia irgendwas? Natalja hatte sie in einem Film gesehen und fand sie absolut farblos. Sie trug ein schwarzes Satinkleid und räkelte sich auf einer roten Chaiselongue. Jeder Körperteil war mit Sofis
Schmuck behängt, bis hinunter zu den Knöcheln, die zwei wunderschöne zarte Fußkettchen zierten. Sie sah atemberaubend aus, wie ein Star. Natalja wurde übel vor Neid. Sie klappte das Heft zu und schleuderte es über den Fußboden, kniff die Augen zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen. Das war nicht fair. Nicht fair. Sofi hätte sie zum Star machen können, aber sie hatte es nicht getan.
Es klingelte an der Tür; die Umzugsfirma kam zu früh. Als die Packer fertig waren, sah Natalja dem Wagen nach, dann ging sie nach oben, um ihre Handtasche zu holen und die kleine Wohnung ein letztes Mal abzuschließen.
Sie hatte soeben das Licht ausgeknipst, als das Telefon klingelte. Abwesend nahm sie den Hörer ab.
»Hallo? Natalja?«
Ein Russe war dran. Erst wusste sie nichts mit dieser Stimme anzufangen. War das etwa der russische Regisseur? Wollte er sie jetzt persönlich beknien, in seinem Film mitzuspielen?
»Ja?«, sagte sie argwöhnisch.
»Hier ist dein Vater.«
Ihre Nerven gaben unter dem Druck nach, und sie begann schallend zu lachen, bis ihr Tränen über das Gesicht liefen. »Du willst wieder Geld von mir? Das ist köstlich.«
»Es ist jetzt zwei Jahre her«, sagte er. »Zehntausend Pfund halten nicht ewig vor. Diesmal solltest du die Summe verdoppeln.«
»Ich habe kein Geld mehr«, sagte sie, noch immer hemmungslos lachend. »Ich kann dir nichts geben. Ich bin gescheitert, Papa. Den Großteil meines Geldes habe ich bei Börsenspekulationen verloren. Gerade heute ziehe ich in eine winzige Wohnung am Arsch der Welt.« Dabei hätte alles ganz anders kommen können, wenn Sofi sie besser beraten,
wenn sie sie für ihre Kampagne verpflichtet hätte. Das brachte sie auf eine Idee. »Ruf Sofi an«, sagte sie. »Sie wird dir Geld geben.«
»Sofi? Warum sollte sie mir Geld geben?«
»Aus demselben Grund wie ich - um dich von Lena fernzuhalten. Hast du einen Stift?«, fuhr sie fort, obwohl sie wusste, dass es unrecht war. »Ich gebe dir ihre Nummer.«
Lena konnte sich einfach nicht an die morgendliche Hektik gewöhnen, die bei ihnen herrschte, seit sie umgezogen waren. Ohne die Unterstützung ihrer Schwiegermutter bei der Suche nach Schuhen oder beim Flechten von Annas Zöpfen war es eine echte Herausforderung, beide Kinder rechtzeitig für die Schule fertigzumachen. Wenn dann endlich alle im Auto saßen, musste erst Sam zum Gemüseladen gebracht werden, ehe sie Anna und Matthew in der Schule ablieferte und zur Kindertagesstätte weiterfuhr. Bisher hatte Wendy die Zwillinge von der Schule abgeholt; auch das blieb nun an Lena hängen. Sie musste ihre Mittagspause nach hinten verschieben und raste täglich um fünfzehn Uhr zur Schule, um die Kinder nach Hause zu bringen und anschließend mit leerem Magen zur Arbeit zurückzukehren. Und trotzdem bereute sie es kein bisschen, dass sie ausgezogen waren. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte es sich an, als wären Sam und sie erwachsen. Ihre Wohnung war sauber und nicht so vollgestopft wie Wendys Haus und außerdem weit weniger zugig, weil sie sich nicht direkt an der Steilküste befand. Am Ende der Straße gab es sogar einen Park.
Doch Sam teilte ihre Freude über die neue Wohnsituation nicht.
»Solange wir noch bei Mum gelebt haben, konnte ich mir einreden, das wäre alles nur vorübergehend«, hatte er am ersten Abend in ihrem neuen Domizil gesagt, als Lena eine Flasche Sekt geöffnet und sich ein halbes Glas eingeschenkt hatte. »Aber hier … das ist real. Auf Dauer. Das ist jetzt mein Leben.«
Lena versuchte, Geduld mit ihm zu haben. Sie hoffte, er würde irgendwann aufhören, Trübsal zu blasen, doch ein halbes Jahr nach dem Umzug suhlte er sich noch immer in Selbstmitleid. Ihr Erbe, ganze
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