Ueber den Himmel hinaus - Roman
bestellt, der ein paar morsche Balken austauschen und ihr dafür einen Kostenvoranschlag unterbreiten sollte, und statt ihr den Schlüssel zurückzuschicken, habe er ihn unter den Fußabstreifer gelegt. »Ich weiß, es ist albern, aber ich will nicht, dass jemand hineingeht und das Haus verwüstet oder Graffiti auf den Wänden hinterlässt, nachdem ich alles geputzt und hergerichtet habe. Könntest du hinfahren und den Schlüssel holen? Ich komme heute nicht mehr dazu, und Sam kann ich nicht fragen.«
Natalja musste zugeben, dass sie neugierig war auf dieses Haus, das Lena so viel Ärger eingebrockt hatte. Aber was, wenn in der Zwischenzeit Leida anrief?
Lächerlich. Leida würde sich bestimmt nicht allzu bald melden. Sie würde sie schmoren lassen, womöglich sogar noch wochenlang. »Natürlich«, erwiderte sie.
»Frag Sam, ob du dir das Auto borgen kannst. Aber bitte sag ihm nicht, warum. Er ist auf das Thema ohnehin nicht gut zu sprechen.«
Also klopfte Natalja gleich darauf bei Sam an die Tür. Er machte auf und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich über ihren Besuch freute.
»Ich muss mir euer Auto borgen.«
»Kein Problem. Wo willst du denn hin?«
Bitte sag ihm nicht, warum. »Lena hat mich gebeten, zu ihrem Haus zu fahren und den Schlüssel zu holen.«
»Warum hat sie nicht mich angerufen?«
Natalja zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, sie wollte dich nicht verärgern.«
»Weißt du, wo es ist?«
»Sie hat mir den Weg beschrieben.«
Sam griff nach seiner Jacke. »Ich fahr dich hin.«
»Aber Lena …«
»Muss es nicht erfahren. Komm schon.«
Draußen im Moor hingen Nebelschwaden in jeder Senke. Sie hörten Radio und fuhren schweigend. Die anhaltende Stille begann Natalja zu beunruhigen. Was sie taten, war falsch, das spürte sie. Aber war es denn weniger falsch, dass Lena sie gebeten hatte, zu ihrem Haus zu fahren, ohne Sam etwas zu sagen? Und wenn ja, warum ? Schließlich hielten sie vor einem heruntergekommenen Haus mit Reetdach.
»Das ist es?«, fragte Natalja enttäuscht.
»Ja.« Sie stiegen aus dem Wagen.
»Jetzt verstehe ich. Darin könnt ihr unmöglich leben.«
»Es würde garantiert einstürzen.« Sam ging voraus zur Tür, hob den Fußabstreifer an und nahm den Schlüssel an sich.
»Willst du reingehen und es dir anschauen?«
Natalja zog ihre Strickjacke enger um sich. »Ja.«
Sie traten ein.
Das Haus war sauber, roch aber modrig und war in einem erbärmlichen Zustand. Schranktüren fehlten oder hingen windschief in den Scharnieren, die Bänke waren in der Mitte durchgebogen, die Fliesen lose oder gesprungen, von der Decke rieselte der Putz.
»Du lieber Himmel, es gehört abgerissen. Warum will sie diese Bruchbude behalten?«
»Für die Kinder.«
»Bis die alt genug sind, ist das Haus eingestürzt.« Natalja warf einen Blick in die Schlafzimmer.
»Sie glaubt offenbar, dass man es wieder in Schuss bringen kann. Deshalb bestellt sie ständig Handwerker her, um Kostenvoranschläge für die Renovierung einzuholen. Sie hat eine ganze Schublade voller Kostenvoranschläge, vom Maler, vom Dachdecker … Es käme billiger, ein neues Haus zu bauen.« Er zuckte mit den Schultern. »Sie lässt nicht mit sich reden, aber dir ist es klar, oder?«
Natalja blieb stehen, drehte sich zu ihm um, sah ihm unvorsichtigerweise in die Augen. »Sam, ich ziehe Ende Oktober wieder nach London«, gestand sie ihm schuldbewusst.
Er ließ die Schultern hängen. »Ehrlich?«
»Du und Lena, ihr habt einiges aufzuarbeiten. Ich bin euch bloß im Weg.«
»Nein, gar nicht, im Gegenteil. Die Gespräche mit dir haben mir sehr geholfen. Du warst für mich da, als ich nicht mehr weiterwusste.« Er wandte sich ab, vielleicht, weil ihm klar wurde, dass seine Worte übertrieben klangen. »Du wirst mir fehlen.«
»Du mir auch.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich weiß, Lena hat dich angelogen und dir nicht vertraut, aber du darfst nicht zulassen, dass aus dieser Sache noch größere Probleme entstehen.«
Sie tätschelte seinen Arm, und man konnte förmlich die Funken fliegen sehen. Er starrte auf ihre Hand. Natalja stand wie versteinert da. Nimm deine Finger von ihm, und lauf - lauf weg, so weit es geht!
Doch er packte ihre Hand und zog sie an sich. Wie in Zeitlupe, so schien es, streckte er den Arm aus, um ihr Haar zu berühren. Er spielte mit einer Strähne, zog sanft daran.
»Sam, nicht«, hauchte sie. Oder vielleicht dachte sie es auch nur. Er beugte den Kopf, um sie zu
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