Ueber den Himmel hinaus - Roman
dröhnend. »Als ich es erfahren habe, war meine erste Reaktion: Ich rufe jeden einzelnen Tschernow, jede einzelne Tschernowa in ganz Russland an, um euch zu suchen. Euer Vater hat mir deine Adresse gegeben.«
Lena schluckte schwer. Wer hätte gedacht, dass der Hass, den sie gegen ihren Vater empfand, noch steigerbar war?
»Dann wurde ich behandelt, und es sah gar nicht so übel aus. Es hieß, ich könnte wieder gesund werden. Ich war so glücklich, dass ich beinahe geneigt war, euch zu verzeihen.«
Er lachte erneut. »Aber der Krebs kam wieder. Inzwischen ist praktisch mein ganzer Körper voller Metastasen. Es heißt, ich hätte nicht mehr allzu lange zu leben. Sechs Monate, vielleicht bloß drei. Kann auch sein, dass ich sogar noch das nächste Weihnachtsfest erlebe. Aber ich werde sterben. Tja, ich schätze, das müssen wir alle.« Er zuckte mit den Schultern.
Lena lauschte ihm schweigend und hoffte, dass das alles war, was er ihr sagen wollte.
»Ich hätte zu Hause bleiben und noch eine Chemotherapie machen können. Aber darauf hatte ich keine Lust. Ich will nicht dahinsiechen. Lieber aufrecht sterben, als auf Knien zu leben. Ich habe noch einige wichtige Dinge zu erledigen.« Er rieb sich das Gesicht.
»Was wollen Sie von mir?«
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Als ich von meiner Krankheit erfahren habe, dachte ich darüber nach, was ich in meinem Leben am meisten bereut habe. Und mir wurde klar: Es war die Tatsache, dass ich mich aus Scham nie an euch gerächt habe. Ich hatte einen Anwalt engagiert, weil ich dachte, der Gedanke, dass Natalja in einer Gefängniszelle alt und hässlich wird, würde mich für die Demütigung entschädigen, aber der Anwalt sagte, es gäbe nicht genügend Beweise. Ich hatte alle Briefe, die du mir geschrieben hast, verbrannt, und mein Auto ist nie wieder aufgetaucht.« Er beugte sich nach vorn, und plötzlich zitterten seine Lippen vor Wut. »Und dann kam mir eine viel bessere Idee.«
Lena schauderte. »Nämlich?«
Er grinste diabolisch. »Keine Sorge, du warst die Nette. Deshalb bin ich hier. Deine Briefe waren aufrichtig. Du hast dir die Zeit genommen, mich kennenzulernen. Ich
habe dir Dinge anvertraut, die … ich sonst nie jemandem erzählt habe. Und ich war dir auch nicht egal, stimmt’s? Deshalb hast du dich ja entschuldigt.«
»Ja, irgendwie schon«, flüsterte sie.
»Es sind die anderen beiden eiskalten Miststücke, die ich einfach nicht vergessen kann. Aber ich kann mich nicht entscheiden, wen ich mehr hasse: Sofi, die sich das alles ausgedacht hat, oder Natalja, die mein Urteilsvermögen außer Kraft gesetzt hat mit ihrem perfekten …« Er schüttelte den Kopf, als wollte er seine Gedanken zur Ordnung rufen. »Also, entscheide du: Welche von beiden trägt die größere Schuld?«
Eine böse Vorahnung stieg in Lena auf. »Warum fragen Sie mich das?«
»Weil eine von ihnen sterben muss.«
Lena brach der kalte Schweiß aus. »Nein! Es ist doch schon so lange her, und …«
»Natalja oder Sofi?«
Lena sprang auf und stürzte in Richtung Tür, doch er fing sie ab. Nicht nur er war seit Langem krank. Ihr Körper war geschwächt vom Alkohol, ihre Muskeln kraftlos, sodass Creedy sie im Nu überwältigt hatte. Er warf sie zu Boden, setzte sich rittlings auf ihren Bauch und zückte ein Jagdmesser.
»Gut, dann machen wir es eben auf die harte Tour. Ich wollte das nicht, aber du zwingst mich ja dazu.« Er drückte ihr die Messerspitze in die weiche Haut unter dem Kinn. »Du wirst gefälligst tun, was ich will. Ich bin seit zwei Wochen hier. Ich weiß, dass du zwei Kinder hast, ich weiß, wo sie wohnen, ich kenne ihren Schulweg. Wenn die Polizei hier auftaucht oder auch nur dein Exmann, dann kommt dich das teuer zu stehen. Ich sterbe, Lena. Ich habe nichts
mehr zu verlieren. Du willst die Bullen rufen? Nur zu, wenn du glaubst, sie sind schnell genug zur Stelle. Aber willst du wirklich riskieren, dass deinen hübschen Kindern etwas zustößt? Oder wirst du tun, was ich sage?«
Lena stöhnte verängstigt auf.
»War das ein Ja?«
»Ja«, keuchte sie.
»Dann entscheide, wer sterben soll.«
»Ich«, sagte sie. »Bringen Sie mich um.«
»Das würde aber keinen großen Spaß machen, oder? Ich will doch schließlich mitverfolgen, wie dich dein Gewissen quält.« Er piekste sie mit der Messerspitze. »Natalja oder Sofi?«
Lena hatte das Gefühl, zu träumen, ganz weit weg zu sein. Dann flammte tief in ihrem Inneren ein Urinstinkt auf.
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