Ueber den Himmel hinaus - Roman
sie, ohne den Blick zu heben.
Sofi setzte sich zu ihr und ergriff ihre Hände. »Ich bitte dich, Mama, sei nicht so zu mir.«
Schweigen.
»Sag mir wenigstens, warum du so böse auf mich bist.«
Erneutes Schweigen. So lief das jedes Mal, und Sofi hatte die Hoffnung auf eine Antwort längst aufgegeben.
Doch diesmal erwiderte Mama mit dünner Stimme: »Ich weiß es nicht.«
Sofis Herzschlag beschleunigte sich. Endlich war es so weit.
»Können wir darüber reden?«
Mama seufzte. »Mir ist wirklich nicht danach, Sofi.«
»Wir müssen aber. Ich will nicht, dass solche Spannungen zwischen uns herrschen, wenn ich so weit weg von dir bin.«
Mama lehnte sich zurück, rückte ein wenig von ihr ab. Im weichen Licht der Lampe zeichneten sich deutlich die tiefer werdenden Falten um ihren Mund ab.
»Ich werde dich vermissen, Mama. Du mich auch?«
»Natürlich«, kam es schroff zurück.
»Fühlst du dich im Stich gelassen? Ist es das?«
»Ja, ich fühle mich im Stich gelassen, Sofi.« Mama seufzte erneut. »Nicht nur von dir, sondern von der ganzen Welt.«
»Wie meinst du das?«
»Ich wusste immer, wo ich hingehöre, aber allmählich kommt es mir so vor, als würde niemand mehr wirklich gebraucht werden.«
»Ich brauche dich.« Sofi hütete sich wohlweislich, sie daran zu erinnern, dass jeden Tag auf der ganzen Welt Töchter erwachsen wurden und von daheim auszogen.
»Ich wusste immer, wo ich stehe«, fuhr Mama zusehends aufgewühlt fort. »Aber jetzt ist alles so unsicher. Ich muss mehr arbeiten und bekomme weniger Geld, und ich weiß nicht, bei wem ich mich darüber beschweren kann. Wegen der kaputten Fliese im Badezimmer habe ich schon mehrfach bei der Hausverwaltung angerufen, aber nichts geschieht, dabei steigt die Miete ständig. Ich bin die Einzige, die noch in der Gemeinschaftsküche kocht; alle anderen haben längst einen Herd in der Wohnung. Die Nachbarn
kenne ich alle nicht mehr, abgesehen von der alten Irina. Und jetzt … verliere ich auch noch meine Tochter.«
»Du verlierst mich nicht. Wir schreiben einander, und wir werden uns wiedersehen. Du kannst mich besuchen kommen.«
»Wie denn? Eine Reise nach London kann ich mir nicht leisten, schon gar nicht jetzt, wo ich allein für die Wohnung bezahlen muss. Ich werde einen Untermieter aufnehmen müssen. Mein Leben lang habe ich mich für andere aufgeopfert - für das Kollektiv, für mein Kind, für die Kinder meines Schwagers, und was habe ich davon? Nichts. Ich bin achtundvierzig, und ich bin erschöpft. Das hier ist mein Leben«, schloss sie mit einer resignierten Handbewegung.
Sofi hatte einen Kloß im Hals. Sie schluckte die Tränen hinunter. »Ich werde dir Geld schicken, Mama. Sobald ich Karriere gemacht habe, kannst du bei mir leben.«
»Ich will kein Geld, und ich werde auch keines annehmen«, entgegnete Stasja. »Und wie kannst du dir so sicher sein, dass du Karriere machen wirst? Das sind doch alles bloß Spekulationen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich werde hier auf dich warten, bis du reumütig zu mir zurückkehrst.«
So weit wird es nicht kommen , dachte Sofi, doch sie sprach es nicht aus, sondern fiel ihrer Mutter um den Hals und drückte sie lange an sich. Das Herz wurde ihr unendlich schwer, als Stasja ihr unter Tränen den Kopf streichelte. Einen Augenblick lang überlegte sie sogar zu bleiben, doch dann kam sie zu dem Schluss, dass es das Beste wäre, wenn sie ging und etwas aus ihrem Leben machte, um ihrer Mutter zu beweisen, dass es möglich war.
KAPITEL 8
Natalja bemühte sich, abends möglichst wenig zu Hause zu sein, denn Tante Stasja nahm es ihr und Lena übel, dass sie, ohne zu fragen, wieder bei ihr eingezogen waren. Also blieb sie nach Ladenschluss meist noch eine Weile in dem Schuhgeschäft, in dem sie jetzt arbeitete, und ging dann stundenlang an den Kanälen spazieren, wobei sie versuchte, sich jedes Detail genau einzuprägen. Der metallisch-säuerliche Gestank der Kanäle und Autoabgase würde ihr bestimmt nicht fehlen, wohl aber die Erhabenheit der Stadt, ihre goldenen Lichter. Wenn sie schließlich nach Hause kam, schlief Tante Stasja manchmal schon.
Es entsprach so gar nicht ihrem Naturell, melancholisch zu werden. Es gab Tage, da konnte Natalja es kaum erwarten, bis Sofi alle Formalitäten erledigt hatte und sie endlich ausreisen konnten. Dann wieder fragte sie sich, wie es ihr wohl in London ergehen würde. Hier kannte sie alles, hier war sie jemand. Aber dort … Gelegentlich rief sie sich bewusst ihre
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