Ueber den Himmel hinaus - Roman
Reise nach Chicago in Erinnerung, als müsste sie sich selbst überzeugen, dass das alles wirklich geschehen war. Nicht zu fassen, dass sie einen Mann bestohlen und sein Auto verkauft hatte. Für zehntausend Dollar. Mittlerweile wusste sie, dass es mindestens fünfmal so viel wert war. Vielleicht waren ihre Schuldgefühle mit ein Grund für ihre Rastlosigkeit. Sie wusste, dass auch Sofi und Lena das schlechte Gewissen plagte.
Sie drückte ihre Zigarette am Sockel der Statue von Peter dem Großen am Senatskaja-Platz aus, vor der sie mit Tolja verabredet war. Sie bekam erneut Gewissensbisse, diesmal gegenüber Lena und Sofi. Sie hatte die Sache mit dem Verlobungsring für sich behalten, nicht etwa, weil sie
unbedingt einen Diamanten besitzen wollte, sondern weil sie der Ansicht war, dass ihr für ihren Einsatz ein kleiner Bonus zustand; schließlich war sie das größte Risiko eingegangen. Sie hatte Tolja gebeten, den Ring für sie zu verkaufen. Sie würde für ihre Vorsprechen schöne Kleider brauchen, Schuhe. Sofi führte sich auf, als gehörte das Geld ihr; sie war wild entschlossen, es so einzuteilen, dass es für ein Jahr reichte, damit sie sich ganz auf die Verwirklichung ihrer Träume konzentrieren konnten, ohne sich ständig um ihren Lebensunterhalt kümmern zu müssen.
Sie wollte sich eben eine neue Zigarette anzünden, als sich eine vertraute massige Gestalt näherte.
»Hallo, Natalja«, begrüßte Tolja sie schmunzelnd.
»Was gibt’s denn da zu grinsen?«, fragte Natalja.
Er zog die Schachtel mit dem Ring aus der Tasche.
»Warum hast du ihn nicht verkauft?«
»Keiner wollte ihn haben.«
»Gut, dann beauftrage ich eben jemand anders damit«, brummte sie verärgert. »Ich …«
»Natalja, er ist nicht echt. Weder der Ring noch der Stein.«
»Was?«
»Du hast schon richtig gehört. Schau, was passiert ist, als der Juwelier ihn geprüft hat.«
Sie hob den Deckel an. Der »Diamant« hatte sich halb aus der Fassung gelöst.
»Jemand hat mir hundert Rubel dafür geboten, aber ich dachte, vielleicht willst du ihn behalten. Als Andenken.«
Sie schnappte empört nach Luft. Man hatte sie übers Ohr gehauen! Dann stimmte sie in Toljas Gelächter ein. Sie lachte, bis ihr die Tränen kamen und der Bauch wehtat. Roy Creedys Verlobungsring war nur billiger Plunder. Das
war zum Brüllen komisch. Ihre Schuldgefühle und ihr Mitleid lösten sich in der kühlen Nachtluft in Nichts auf.
Lena erwachte früh, viel zu früh, und konnte vor Aufregung nicht mehr einschlafen. In elf Stunden würde sie mit ihrer Schwester und ihrer Cousine in einem Flugzeug nach London sitzen. Es kam ihr unwirklich vor, wie ein Traum. Rasch stieg sie aus dem Bett und zog sich an.
Natalja wachte auf. »Was machst du denn?«, flüsterte sie.
»Ich kann nicht schlafen.«
»Versuch es. Es ist drei Uhr morgens. Wir haben einen langen Tag vor uns.«
»Ich werde es überleben.«
Lena schlich hinaus, schlüpfte in ihre Schuhe, nahm ihre Handtasche und stahl sich aus der Wohnung.
Es war Juli, schon bald würde wieder die Sonne scheinen. Der Himmel war von einem zarten Hellblau, das zum Horizont hin in Blassrosa überging. Davor erhob sich düster die Silhouette der Stadt. Es war ruhig, obwohl die Straßen nicht menschenleer waren. Touristen, Teenager und Leute, die wie sie nicht schlafen konnten, waren auf den Beinen, um die weiße Nacht zu genießen. Es war ein seltsames Gefühl, durch eine Stadt zu schlendern, in der es nicht richtig dunkel wurde. Lena kam sich vor wie in einem Traum. Sie spazierte eine Weile ziellos umher und schlug dann ganz automatisch den Weg zu der Wohnung ein, die sie sich mit Natalja geteilt hatte. Diese Adresse hatte sie auf den Kärtchen angegeben, die sie den ausländischen Gästen im Hotel zugesteckt hatte, weshalb sie einmal die Woche den Briefkasten dort kontrollierte. Lena konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sich ihr Vater womöglich jetzt, nachdem sie dort ausgezogen waren, melden könnte.
Es waren kaum Autos unterwegs, die Luft war frisch und kühl. Lena wartete vergeblich darauf, dass Melancholie und ein Vorgeschmack von Heimweh sie erfassten. Seltsam. Sie wusste, dass Sofi darunter litt, und selbst Natalja erwähnte inzwischen immer wieder, dass sie dieses und jenes vermutlich zum letzten Mal taten oder sahen. Lena war angespannt, wie man es vor einer großen Veränderung nun einmal ist, doch der Verlust ihres Vaters war für sie weitaus schlimmer gewesen. Der Abschied von Sankt Petersburg
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