Ueber den Himmel hinaus - Roman
Betrachtung löste eine zufriedene Schläfrigkeit in ihr aus. Schließlich wandte sie sich dem nächsten Werk zu, das sie mindestens genauso faszinierend fand. Blanchards Bilder repräsentierten genau jene für das neunzehnte Jahrhundert typische, antik anmutende Finesse, die sie stets in ihren Schmuckstücken einzufangen versuchte: traditionell und detailreich, aber mit modernen Materialien und Techniken ausgearbeitet.
Der Mann, der vorhin die Plakate aufgehängt hatte, stellte sich neben sie und musterte sie.
Sofi wandte den Kopf, lächelte ihn vorsichtig an. Er lächelte nicht zurück; im Gegenteil, der Blick seiner hellblauen Augen war kühl, eisig beinahe. »Was sehen Sie?«
Sofi war verblüfft, um Worte verlegen. »Sie sind wunderschön.«
»Ich habe sie gemalt.«
In der Gegenwart des Künstlers war sie gleich noch befangener. »Wirklich? Meine Güte, es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Sie sind … eine Inspiration.«
Er sah sie verständnislos an. »Tut mir leid, mein Russisch ist nicht gut. Sprechen Sie Französisch?«
Sofi schüttelte den Kopf. Sie starrten einander einen Augenblick schweigend an, dann ging er davon und verschwand hinter einer Tür mit der Aufschrift Zutritt nur für Personal. Sofi wandte ihre Aufmerksamkeit wieder seinen Bildern zu, doch sie konnte nur noch an diesen Julien Blanchard denken, an sein Leben als Maler in Frankreich.
Ihm schien gar nicht bewusst zu sein, wie glücklich er sich schätzen sollte. Gedankenverloren spielte sie mit ihrem selbst gefertigten Armkettchen und fragte sich, ob sie je etwas erschaffen würde, das beim Betrachter eine ähnliche Wirkung erzeugte wie Julien Blanchards Bilder.
Als Stasja nach Hause kam, saß Sofi am Esstisch, ihre Perlen vor sich ausgebreitet, und starrte auf eine Postkarte.
»Alles in Ordnung?« Sie stellte ihre Tasche neben der Tür ab, ging zu ihrer Tochter und betrachtete die Karte. »Hübsch.«
»Ich habe mit dem Maler gesprochen.« Sofi wusste, dass sie klang wie ein Teenager, der sein Pop-Idol kennengelernt hat. »Ein richtiger, echter Maler.«
»Bestimmt muss er essen, schlafen und atmen wie jeder andere Mensch auch.«
Das Telefon klingelte. Sofi sprang auf.
Es war Lena. »Natalja ist wieder da.«
»Was? Seit wann? Sie hat uns nicht angerufen. Hat alles geklappt? Geht es ihr gu…«
»Keine Zeit«, fiel ihr Lena ins Wort. »Wir ziehen aus. Komm und hilf uns. Ein Bekannter von Natalja kommt auch gleich.«
»Ausziehen? Jetzt schon? Warum?«
»Komm einfach her, und mach schnell.« Aufgelegt.
Mama runzelte die Stirn. »Wer war das?«
Sofi war bereits an der Tür. »Lena. Ich muss los. Bis später.«
Sie rannte zur Metro. Was war geschehen? Warum die Eile, und warum hatte Lena so hoffnungsvoll und panisch zugleich geklungen? Menschen in Wintermänteln und Pelzmützen hasteten an ihr vorüber, aus den Restaurants drang
der Geruch nach Bratfett. Sie eilte unter einem Baugerüst durch und gelangte kurz darauf in die kleine Straße, in der Lena und Natalja wohnten.
Lena begrüßte sie atemlos. Es herrschte ein heilloses Durcheinander - überall Kleiderhaufen, Bücherstapel, gefährlich hoch aufgetürmte Schachtelberge.
»Was ist los? Wo ist Natalja?«
»Hier bin ich.« Natalja trat mit einer Kiste aus dem Bad. »Mach dich nützlich. Verstau diese Bücher da in Schachteln.«
»Ich rühre keinen Finger, ehe du mir gesagt hast, was los ist.«
»Das erfährst du gleich«, sagte Natalja. »Aber fang an zu packen. In einer Stunde kommt Tolja mit einem Laster.«
Sofi machte sich an die Arbeit und lauschte entsetzt und aufgeregt zugleich Nataljas Bericht. Zehntausend Dollar, und eine ganze Menge Goldschmuck obendrein! Sie hatte Gewissensbisse, aber ihr Optimismus überwog.
»Wir müssen es also nicht noch einmal tun«, schloss Lena. »Toll, nicht?«
»Aber wir müssen sofort hier raus«, sagte Natalja. »Ich traue diesem Roy alles zu. Wenn er der Adresse drüben auf der anderen Straßenseite einen Besuch abstattet, wäre mir gar nicht wohl in meiner Haut.«
»Wo wollt ihr hin?«
»Zu dir und Tante Stasja.«
Sofi wollte einwenden, bei ihnen sei kein Platz, aber die meisten Möbel in dieser Wohnung gehörten dem Vermieter, und sie hatte schon einmal ihr Zimmer mit Lena und Natalja geteilt. Außerdem würden sie ohnehin schon sehr bald das Land verlassen. Der Gedanke an Mama, die von all dem nichts ahnte, versetzte ihr einen Stich.
Der Kistenberg wuchs. Sofi knurrte der Magen. Eigentlich hätten sie feiern
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