Ueber den Himmel hinaus - Roman
darauf. Dann klebte sie sämtliche Marken darauf, die sie noch hatte. Sie würde sie
nicht mehr brauchen. Als sie den Brief eingeworfen hatte und den Weg nach Hause antrat, war ihr bedeutend leichter ums Herz.
Jetzt war sie bereit für einen Neubeginn. Ein neues Leben. In einem fernen Land.
Teil Zwei
KAPITEL 9
Natalja hatte die Nase voll vom Sparen. Besser gesagt, von Sofis Sparplänen.
Sie stand im Büro von Hanson & McCall, einer Model-und Casting-Agentur in der Tottenham Court Road, und Veronica Hanson höchstpersönlich prophezeite ihr eine glänzende Zukunft, dabei wusste Natalja noch nicht einmal, ob sie sich die Fotoaufnahmen für ihr Modelbook leisten konnte.
»Ich muss erst meine Cousine fragen«, murmelte sie. »Sie verwaltet unser Geld.«
Veronica, eine alternde Schönheit Anfang fünfzig, lächelte milde. »Sagen Sie ihr, diese Investition wird sich binnen eines Monats amortisieren. Mir schweben da einige Castings vor, für die Sie perfekt wären.«
»Als Model oder Schauspielerin?«
»Beides.«
Natalja hatte zu ihrer großen Enttäuschung feststellen müssen, dass die meisten Agenturen nur Models mit einer Mindestgröße von einem Meter achtzig vertraten. Sie war eineinhalb Zentimeter zu klein, ein Makel, auf den man sie bei der Shining Smile Academy in Sankt Petersburg nie aufmerksam gemacht hatte. Bei Hanson & McCall galten weniger strenge Anforderungen; auch ihr starker russischer Akzent war kein Problem.
»Sie sollten keine Zeit verschwenden.« Veronica reichte ihr eine Visitenkarte. »Rufen Sie mich noch heute Abend an.«
Natalja machte sich auf den Weg zur U-Bahnstation in der Goodge Street, um zu ihrer winzigen Mietwohnung in Fulham zurückzukehren. Sie hatte sich noch nicht an die
lateinischen Schriftzeichen gewöhnt, die ihr überall entgegenstarrten. Es kam ihr so vor, als wäre sie in ein Lehrbuch gestolpert, in dem sie kein Wort verstand. Seit ihrer Ankunft in London vor zwei Wochen hatte sie jeden Tag erfolglos mehrere Agenturen abgeklappert, meist mit Lena im Schlepptau. Es ärgerte Natalja, dass sich ihre Schwester dasselbe Ziel in den Kopf gesetzt hatte wie sie. Schon als kleines Mädchen hatte sie ständig »Ich auch!« geschrien, und Natalja hatte alles mit ihr teilen müssen. Aus diesem Grund hatte sie sich heute Morgen allein aus der Wohnung geschlichen.
Als sie nach Hause kam, saß Sofi auf der durchgesessenen Couch und blätterte in einem Bastelkatalog.
»Wo ist Lena?«, erkundigte sich Natalja und hängte ihre Tasche an den Haken hinter der Tür.
Sofi ließ den Katalog sinken. »Sie hat sich heimlich rausgeschlichen, genau wie du heute früh.«
Das traf sich ja gut. »Ich muss mit dir reden«, verkündete Natalja und schwenkte Veronica Hansons Visitenkarte. »Ich habe eine Agentur gefunden, die mich vertreten will.«
»Du bist ohne Lena losgezogen?«
Natalja winkte ab. »Wir sind schließlich keine siamesischen Zwillinge. Es ist mein Traum; Lena soll sich einen eigenen suchen.«
Sofi drehte die Karte um. »Du liebe Zeit«, stieß sie hervor, als sie die Summe sah, die auf der Rückseite notiert war. »Sind das die anfallenden Gebühren?«
»Ja, aber Veronica meinte, ich werde das Geld im Nu wieder hereinbekommen … Und sie will mich, nicht Lena, verstehst du?«, fuhr Natalja mit gesenkter Stimme fort.
»Was weißt du über diese Agentur? Ist sie seriös?«
»Auf mich wirkt sie jedenfalls seriös.«
Sofi seufzte. »Tja, ich schätze, einen Versuch ist es wert, wo du schon mal in London bist.«
»Dann kann ich das Geld also haben?«
»Ja, aber unter einer Bedingung: Wir müssen anfangen, Englisch zu reden, auch zu Hause, sonst wird das nichts.«
Natalja verzog das Gesicht, musste ihr aber recht geben.
»Ich brauche auch ein bisschen Geld«, gab Sofi zu und hob den Katalog hoch. »Für Silberdraht und Glasperlen. Nicht so viel wie du, aber … Es gibt da einen Markt, auf dem sich mein Schmuck bestimmt verkaufen würde.«
»Tja, ich schätze, einen Versuch ist es wert, wo du schon mal in London bist«, echote Natalja. »Aber dann wird auch Lena ihren Anteil haben wollen.«
»Natürlich.«
»Ich weiß, es ist nur recht und billig«, sagte Natalja, »aber Lena wusste noch nie genau, was sie werden wollte.«
»Sie will Schauspielerin werden.«
»Ach, ja? Hat sie dir je einen Beweis dafür geliefert? Sie macht mir doch bloß alles nach.«
Sofi lächelte milde. »Wie auch immer; sobald wir unseren Anteil wieder eingenommen haben, ist sie an der
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