Ueber den Himmel hinaus - Roman
konnte sie niemals derart aus der Bahn werfen.
Schließlich war sie bei ihrem alten Wohnhaus angekommen. Sie hatte ihren Hausschlüssel noch nicht abgegeben, und als sie die Sicherheitstür aufsperrte und einen weißen Umschlag aus ihrem Briefkasten ragen sah, machte ihr Herz einen Sprung. Doch es war bloß Reklame für Natalja; in der Ecke war das Logo einer Bekleidungsfirma aufgedruckt. Enttäuscht steckte Lena den Umschlag in ihre Handtasche und spähte ins Treppenhaus. Vielleicht waren mittlerweile neue Mieter eingezogen und hatten den Briefkasten geleert? Nein, dann hätten sie Nataljas Post bestimmt mitgenommen.
Lena sank auf die unterste Stufe und lehnte den Kopf an die Wand. Sollte sie die Suche aufgeben? War es an der Zeit, erwachsen zu werden und sich damit abzufinden, dass er entweder nicht mehr unter den Lebenden weilte oder, was weitaus wahrscheinlicher war, seine Töchter ganz einfach hatte loswerden wollen? Sie seufzte. Im Grunde hatte sie wohl immer geahnt, dass ihr Plan, in Amerika nach ihm zu suchen, sinnlos war. Ein neues Leben wartete auf sie, und es erforderte einen neuen Denkansatz. Vielleicht sollte sie doch eine Karriere als Model oder Filmstar anstreben. Sie würde berühmt werden und einen wunderbaren,
ebenfalls berühmten Mann kennenlernen, und darüber würde sie ihren Vater, ihre erste Liebe, vergessen. Sie schloss die Augen. Versuchte vergeblich, sich daran zu erinnern, wie er damals ausgesehen hatte. Seine Züge waren verblasst.
»Lebwohl, Papa«, murmelte sie, öffnete die Augen und erhob sich. Wer wusste schon, was die Zukunft brachte? Alles war möglich. Alles bis auf die Rückkehr ihres Vaters.
Als sie auf die Straße trat, fiel ihr Blick auf das Gebäude gegenüber. Dort befand sich die ausgebrannte Wohnung, deren Briefkasten sie für ihren Heiratsschwindel verwendet hatten. Armer Roy. Sie hatten ihn belogen und betrogen. Natalja behauptete, er sei gefährlich, doch das konnte sich Lena nicht vorstellen. Sie hatte seine Briefe gelesen. Er hatte Fehler, und er war verwundbar, genau wie jeder Mensch. Einem plötzlichen Impuls folgend überquerte sie die Straße. Ob er wohl noch einmal geschrieben hatte?
Diesmal wurde ihre Mühe belohnt. Ein cremeweißer Umschlag mit Roy Creedys vertrauter Handschrift lag im Briefkasten. Sie riss ihn auf.
Hallo Natalja, du Miststück, ich bin froh, dass du weg bist. Ich habe dir vertraut. Ich habe dich GELIEBT. Aber jetzt weiß ich, dass du eine verlogene Hure bist. In der Hölle sollst du schmoren, du elende Schlampe. Du hast mir das Herz gebrochen. Roy.
Der Brief war in sichtlicher Erregung verfasst worden, die Buchstaben waren förmlich ins Papier eingraviert. Lena überflog die Zeilen ein zweites und ein drittes Mal. Du hast mir das Herz gebrochen.
Tief in Gedanken versunken machte sie sich auf den Rückweg. Geh nach Hause, leg dich ins Bett, versuch zu schlafen.
Aber dann bekäme sie heute keine Gelegenheit mehr, ihren Plan zu verwirklichen. Natalja und Sofi würden es ihr nicht gestatten.
Entschlossen setzte sie sich auf die Fensterbank eines Friseursalons und begann in ihrer Tasche zu kramen. Da, ein Stift, und Briefmarken hatte sie auch, aber kein Papier. Sie riss den an Natalja adressierten Umschlag auf. Werbung, wie sie bereits vermutet hatte. Die Rückseite des Blattes war leer.
Lieber Roy, schrieb sie auf Englisch. Ich bin Ihnen zumindest eine Erklärung schuldig …
Sie überlegte. Wie viel sollte sie preisgeben?
Natalja ist nicht allein verantwortlich. Ich bin ihre Schwester; ich habe die Briefe geschrieben. Unsere Cousine Sofi hat alles organisiert. Wir sind arm und verzweifelt. Ich weiß, das rechtfertigt nicht, was wir getan haben, aber vielleicht verstehen Sie uns wenigstens ein bisschen. Ich fand unseren Briefwechsel schön. Ich glaube, Sie sind ein netter Mensch, und ich hoffe, Sie finden eine andere Frau, die Sie aufrichtig liebt. Es tut mir schrecklich leid.
Lena.
Sie überflog das Geschriebene mehrere Male. Er sollte wissen, dass sie seine Erbitterung verständlich fand und sie ihre Tat bereuten. Was konnte schon groß passieren? Bis er den Brief erhielt, würden sie ohnehin längst über alle Berge sein, und es war höchst unwahrscheinlich, dass er sie je aufspüren würde. Vielleicht hatte die ganze Sache sogar ihr Gutes: Künftig würde er bestimmt besser aufpassen.
Sie steckte ihren Brief in den Umschlag, den er verwendet hatte, zog den Adressaufkleber ab und schrieb stattdessen Creedys Namen und Anschrift
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