Ueber den Himmel hinaus - Roman
einem der Stände verschwunden, fiel es ihr wieder ein: Julien Blanchard, der französische Maler, dessen Ausstellung sie damals in Sankt Petersburg so begeistert hatte! Seine Postkarte klebte am Spiegel ihrer Kommode. Sofis Herz setzte einen Takt aus. Was für ein Zufall, dass er in London war, genau wie sie. Sofi wäre ihm am liebsten nachgelaufen, um ihn zu fragen, was er hier machte. Aber sie kannte ihn überhaupt nicht, und außerdem konnte sie nicht einfach ihren Stand verlassen … Doch was, wenn sie ihn womöglich nie wiedersah?
Der Gedanke stimmte sie traurig, wenngleich sie gar nicht so recht wusste, weshalb.
»Monica, ich habe gerade … einen Bekannten gesehen«, sagte sie zu ihrer Standnachbarin. »Könnten Sie vielleicht …?«
»Ein Auge auf Ihre Sachen haben? Aber gern.«
Sofi bedankte sich und huschte hinter ihrem Stand hervor. Zögernd blickte sie sich um. Dann wandte sie sich entschlossen nach links - und wäre beinahe mit ihm zusammengestoßen.
»Oh«, keuchte sie überrascht.
Er entschuldigte sich, ohne sie anzusehen.
»Monsieur Blanchard?«, sagte sie. Mehr fiel ihr im Moment nicht ein.
Er blieb stehen, trat einen Schritt zurück, musterte sie. Sofi fuhr sich verlegen durch die Haare.
»Wir kennen uns?«, fragte er.
»Ja, gewissermaßen. Aus Sankt Petersburg. Ich habe mir dort Ihre Ausstellung angesehen; Ihre wunderschönen Bilder.«
Er lächelte, und um seine blauen Augen bildeten sich Fältchen. »Ich kann mich nicht erinnern, tut mir leid.«
»Nun, ich sprach kein Französisch und Sie kein Russisch.«
»Aber jetzt sprechen wir beide Englisch und können uns unterhalten.« Er lachte leise und spähte über ihre Schulter. »Das ist Ihr Stand?«
»Ich … Ja.«
Er beugte den Kopf, um eine Halskette aus schwarzen Glasperlen zu inspizieren. »Sehr hübsch«, sagte er. »Glas?«
»Ja. Onyx wäre natürlich schöner. Oder Amethyst.«
»Ich sehe schon, Sie haben ein Faible für Schmuck aus dem neunzehnten Jahrhundert.«
»Ganz recht. Zu diesem Stück hat mich ein Porträt von Königin Viktoria inspiriert.«
Julien richtete sich auf und strich sich das Haar glatt. Er war höchstens drei Zentimeter größer als sie, sodass sich ihre Augen praktisch auf derselben Höhe befanden. Seine Gesichtshaut wirkte sehr zart, als hätte er Schwierigkeiten, sich einen Bart wachsen zu lassen. »Können Sie kurz Pause machen, um mit mir einen Kaffee zu trinken?«
Sofi zögerte. Sie hätte nichts lieber getan, aber es würde eine Ewigkeit dauern, bis sie ihre Sachen zusammengepackt hatte …
»Gehen Sie nur«, ertönte es von nebenan. Monica war ihre Unterhaltung offenbar nicht entgangen. »Ich passe so lange auf Ihren Stand auf.«
Sofi schnappte sich ihre Handtasche. »Vielen Dank, Monica.«
»Ich weiß noch gar nicht, wie Sie heißen«, sagte Julien, als sie sich auf den Weg machten.
»Sofi.«
»Sofi, es freut mich, Sie - erneut - kennenzulernen.«
Sie ergatterten einen Tisch in einem überfüllten Café, von dem aus man einen Blick über den gesamten Markt hatte. Sofi war aufgeregt. Sie hatte nicht viel Übung im Umgang mit Männern, von berühmten Künstlern ganz zu schweigen. Sie gab sich Mühe, nicht wie ein schüchterner Teenager aufzutreten.
»Ich habe damals in Sankt Petersburg versucht, Ihnen zu vermitteln, wie toll ich Ihre Bilder finde.«
Er runzelte die Stirn. »Ja? Das freut mich. Heute habe ich keinen so guten Tag. Jeder Pinselstrich scheint danebenzugehen.«
Julien Blanchard zweifelte an sich? Sofi konnte es kaum fassen. Vielleicht hatten sie ja einiges gemeinsam.
Sie plauderten eine Weile miteinander, wobei ihre mangelnden Sprachkenntnisse gelegentlich für amüsante Missverständnisse sorgten. Julien erzählte, er sei ein halbes Jahr in London, weil er ein Kunststipendium erhalten habe. Er fühlte sich allerdings nicht sonderlich wohl; die Stadt war zu grau, zu überfüllt für seinen Geschmack. Er begann, von seiner Heimatstadt im Loiretal zu schwärmen.
»Richelieu wurde im siebzehnten Jahrhundert gegründet. Es ist von einer Stadtmauer und einem Wassergraben umgeben, in dem inzwischen Gras wächst. Ich wohne in einer maison ancienne , einem jahrhundertealten Haus. Ich habe das Haus vor drei Jahren geerbt, als meine Mutter starb.«
Während er von warmen Sommern und milden Wintern erzählte, von einem Bauernmarkt unter Kastanien und Eichen, von einer Gartenterrasse, auf der er im Juli seine Staffelei aufbaute, um zu malen, von Libellen umschwirrt, fiel Sofi auf,
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