Ueber den Himmel hinaus - Roman
fragte Sams Mutter Wendy schon zum dritten Mal an diesem Tag.
Sie saßen in der Krankenhauscafeteria und warteten auf Lenas ersten Termin bei der Hebamme. Lena war nervös und wäre lieber mit Sam allein gewesen, doch Wendy war erst gestern angereist, in Begleitung ihrer Tochter Becky, und wie sich bald herausgestellt hatte, war Sam nicht in der Lage, seiner Mutter einen Wunsch abzuschlagen.
»Wir kommen mit ins Krankenhaus!«, hatte Wendy begeistert gerufen. »Ich möchte so viel wie möglich am Leben meines ersten Enkelkindes teilhaben.«
Wendy hatte Sam mit achtzehn und Becky mit zwanzig zur Welt gebracht und beide Kinder allein großgezogen. Sie war eine attraktive Frau Anfang vierzig. Rotbraunes Haar, tadellos aufgetragenes Make-up, lange, sorgfältig lackierte Fingernägel. Ihre Bluse im Leopardenlook spannte über ihrem beeindruckenden Busen. Dazu trug sie enge Jeans und hochhackige Stiefel. Becky dagegen war ungeschminkt und hatte nichtssagend braunes, raspelkurz geschnittenes Haar, und sie verdrehte die Augen, sobald ihre Mutter den Mund aufmachte.
»Um Himmels willen, Mum, denkst du noch an etwas anderes als an Hochzeiten?«, sagte sie.
»Bei dir kann ich die Hoffnung ja wohl aufgeben, oder?«, entgegnete Wendy bissig. »Becky hat nämlich beschlossen, dass sie auf Mädchen steht«, erklärte sie Lena.
»Oh.« Darauf wollte Lena partout keine passende Antwort einfallen, weder auf Englisch noch auf Russisch.
»Eins nach dem anderen, Mum. Wir haben noch nicht übers Heiraten geredet.« Sams Langmut seiner Mutter gegenüber war enervierend.
»Ihr solltet zu mir ziehen«, schlug Wendy vor. »Ich kann auf das Baby aufpassen, während Lena arbeiten geht.«
»Wir bleiben in London«, wandte Sam ein. »Lena wird sich selbst um das Kleine kümmern.«
»Von einem Einkommen könnt ihr doch nicht leben. Und wo wollt ihr denn wohnen? Werdet ihr beide bei James auf dem Sofa schlafen?«
»Wir werden schon etwas finden. Ich bin auf der Suche.«
Lena schielte auf die Uhr, die über dem Tresen an der Wand hing. Noch fünf Minuten. »Wir müssen los, Sam.«
Wendy leerte ihre Tasse. »Wir begleiten euch rauf.«
Lena wäre vor dem Termin zu gern ein paar Minuten mit Sam allein gewesen, aber es sollte nicht sein. Die Hebamme war eine halbe Stunde im Verzug, und während sie im Wartezimmer saßen, erteilte Wendy ihrer künftigen Schwiegertochter ununterbrochen gute Ratschläge. Und Lena war gezwungen, sich immer wieder lächelnd und nickend zu bedanken. Sam und Becky, die das offenbar schon kannten, hatten sich beide hinter einer Zeitschrift verschanzt. Es befanden sich mehrere Frauen in verschiedenen Schwangerschaftsstadien im Raum. Lena legte die Hand auf ihren Bauch. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er irgendwann auch so groß sein würde.
Endlich wurde ihr Name aufgerufen. Lena und Sam erhoben
sich, Wendy ebenfalls. Lena blickte in Panik zu Sam.
»Mum, du wartest hier«, befahl er.
»Aber wenn sie da drin eines von diesen Ultraschallgeräten haben, dann seht ihr das Baby zum ersten Mal! Hat eine frischgebackene Großmutter denn nicht auch das Recht, ihr Enkelkind zu sehen?«, klagte sie, und Lena fragte sich, ob Wendys Kummer aufrichtig war oder bloß vorgetäuscht.
Die Hebamme winkte Lena. »Bitte, kommen Sie herein. Wir sind schon im Verzug.«
»Dürfen Angehörige auch mitkommen?«, erkundigte sich Wendy.
»Wenn Sie wollen.«
Nun fand Lena doch endlich den Mut, den Mund aufzumachen. »Nein. Das ist eine sehr intime Angelegenheit für mich.«
»Oh. Verstehe.« Wendy verzog enttäuscht das Gesicht. »Gut, dann warten wir eben hier.«
»Lass sie doch endlich in Frieden, Mum«, stöhnte Becky entnervt.
Mit Sam im Schlepptau folgte Lena der Hebamme in ihr Sprechzimmer. An einer Pinnwand über dem Schreibtisch hingen unzählige Fotos von Neugeborenen, rot, brüllend, noch ganz faltig. Angst erfasste Lena. Warum hatte sie die Schwangerschaft nicht abgebrochen? Sam hatte ihr zu verstehen gegeben, dass er auch damit einverstanden gewesen wäre … Doch Lena hatte es nicht übers Herz gebracht. Sie wollte bis in alle Ewigkeit mit Sam zusammen sein und mit ihm Kinder haben. Warum sollte sie ausgerechnet dieses Kind nicht zur Welt bringen, nur weil ihnen der Zeitpunkt nicht passte? Sie hätte sich stets gefragt, wie
es wohl ausgesehen hätte - Sams Locken oder ihre glatten Haare; Sams graue Augen oder ihre braunen? Außerdem war Abtreibung irgendwie Mord, auch wenn sie diese Meinung Natalja gegenüber
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