Ueber den Himmel hinaus - Roman
Schwester täglich im Fernsehen und in Zeitschriften zu sehen war. Natalja war schlank und glamourös wie eh und je und ging ständig in Designerkleidern auf Partys, während sie selbst immer dicker wurde. Ihr riesiger Bauch war von hässlichen roten Dehnungsstreifen überzogen, ihre einst festen Brüste waren weich und schwabbelig geworden. Lena konnte es kaum mehr ertragen, ständig im Schatten ihrer Schwester zu stehen. Sie brauchte Abstand.
»Ich fürchte, euch beiden ist gar nicht klar, wie viel Arbeit kleine Kinder machen«, fuhr Wendy fort. »Ihr werdet meine Hilfe brauchen, und ich habe Platz.«
Lena beendete die Unterhaltung, indem sie sich von der Bank hochstemmte, die Hand im Kreuz. »Das ist sehr
freundlich von dir, Wendy, und ich weiß dein großzügiges Angebot zu schätzen, aber wir bleiben in London.«
Wendy murmelte etwas, das verdächtig nach »Das werden wir ja sehen« klang. Jedenfalls ganz und gar nicht freundlich.
»Wie bitte?«, fragte Lena.
»Vergiss es.« Wendy setzte ein gezwungenes Lächeln auf. »Gehen wir in der High Street eine Tasse Tee trinken.«
Sie machten sich auf den Rückweg, steif, Arm in Arm, während unten die See über die schwarzen Felsen wirbelte.
Rupert Palmers Wohnung befand sich in einem Wohnhaus im edwardianischen Stil in Mayfair. Sofi hoffte, Natalja hier anzutreffen, denn sie musste sie dringend sprechen. Sie klingelte und wartete, an den Türrahmen gelehnt. Ihr Blick glitt über die gepflegten Hecken, den gepflasterten Gehweg und die blitzblanken neuen Autos, die draußen an der Straße standen. Es war Mai, und bei dem warmen Wetter schweiften ihre Gedanken unwillkürlich zu ruhigen Dorfstraßen und langen Gräsern ab, die sich im Wind wiegten. Es war Juliens Schuld. In seinen zahlreichen Briefen hatte er nicht nur seine Einladung nach Richelieu wiederholt, sondern mit seinen ausführlichen Schilderungen und Schwärmereien auch ihre Fantasie angeregt. Sonnenbeschienene steinerne Brücken, die stille Seen überspannten, von Ulmen gesäumte Landstraßen, endlose Wiesen mit gelben Wildblumen … Manchmal wechselte er, offenbar ohne es zu bemerken, ins Französische, als ließe sich die Liebe zu seiner Heimat nicht übersetzen.
Sofi klingelte erneut. Ihre Cousine ging ihr aus dem Weg. Sofi hatte angerufen, aber nur Ruperts Anrufbeantworter erreicht. Sie hatte absichtlich keine Nachricht hinterlassen,
in der Hoffnung, Natalja überrumpeln zu können, wenn sie unangekündigt auftauchte.
»Ja?«, tönte Nataljas Stimme aus der Sprechanlage. Na also.
»Hier ist Sofi.«
Schweigen. Dann ertönte es fröhlich: »Komm doch rauf.«
Der Türöffner summte. Sofi trat ein und nahm den Aufzug in den vierten Stock.
Natalja empfing sie barfuß, in T-Shirt und Designerjeans, und führte Sofi durch den Korridor in das riesige Wohnzimmer. Natalja ließ sich mit untergeschlagenen Beinen auf einem Ledersessel nieder und bedeutete Sofi, sich ebenfalls zu setzen.
»Wo ist Rupert?«, fragte Sofi.
»Er hat eine Besprechung.«
Sofi war erleichtert. Sie fand Rupert mit seinen kalten Augen und seinem falschen Lächeln unsympathisch. Natalja war offenbar anderer Ansicht. Sie hatte eine Affäre mit ihm, versuchte es aber zu verbergen. Wenn sie in den frühen Morgenstunden kurz zu Hause vorbeischaute, um frische Kleider zu holen, hatte sie stets irgendeine unwahrscheinlich klingende Erklärung auf Lager: ein spätes Fotoshooting, eine Party, bei der sie auf dem Sofa eingeschlafen war. Sofi wusste nicht, warum Natalja nicht offen über ihre Beziehung zu Rupert sprach. Lag es an seinem Alter? Oder wusste sie insgeheim, wie unklug es war, mit einem Geschäftspartner zu schlafen, vor allem mit einem, der so viel Macht über sie hatte? Sofi hoffte, dass das der Grund war, aber in letzter Zeit hatte Natalja einige sehr unkluge Entscheidungen getroffen. Deshalb war sie hier. Mit der heutigen Post war neben Briefen von Julien und Mama ein Vertrag gekommen, den Sofi noch nie gesehen hatte.
»Ich habe nicht mit deinem Besuch gerechnet«, bemerkte Natalja. Der Anblick ihres goldenen Fußkettchens versetzte Sofi einen Stich. Ihre Cousine weigerte sich standhaft, ihren Schmuck zu tragen. War ihr denn nicht klar, dass ein paar Fotos von einem aufstrebenden Fernsehstar, der Accessoires von Anastasia Designs trug, ihr Geschäft ordentlich in Schwung bringen würde? Andererseits konnte von Geschäft gar keine Rede sein. Sie hatte die Produktion schleifen lassen, weil sie vollauf damit
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