Ueber den Himmel hinaus - Roman
kümmerte sich Wendy rührend um sie, seit sie hier waren. Sie kochte, wusch ihre Wäsche und brachte ihnen fast jeden Tag Babykleidung aus dem Secondhandladen in der Stadt mit.
In Ermangelung eines Strandes fand Briggsby in keinem Reiseführer Erwähnung, dafür gab es eine Steilküste und kilometerlange Gezeitentümpel. Wenn wie heute die See rau war, donnerten die Wellen ohrenbetäubend gegen die
Felsen am Fuße der Klippen. Das hohe gelbe Gras entlang des Spazierweges wogte im Wind, über ihnen kreisten schneeweiße Möwen. Der Himmel war grau, der Frühling schien noch meilenweit entfernt.
»So …« Wendy ergriff Lenas Hand; eine gezwungene Geste, die wohl suggerieren sollte, sie wären dicke Freundinnen. »Schön, dass ich dich mal ganz für mich habe.«
»Ja«, sagte Lena notgedrungen.
»Habt ihr schon Namen für die Kleinen ausgesucht?«
»Ach, das ist schwierig. Im Grunde müssen wir uns ja vier Namen überlegen, je zwei für Mädchen und zwei für Jungen, und dann müssen wir zwei aussortieren.«
»Mir gefällt Anna; so hat meine Mutter geheißen. Sam stand seiner Großmutter sehr nahe.«
Lena behielt wohlweislich für sich, dass Sam diesen Namen bislang nicht erwähnt hatte. »Mein Vater hieß Viktor, das würde ich für einen Jungen nehmen, oder Viktoria für ein Mädchen.«
Wendy verzog das Gesicht. »Na, ich weiß nicht. Bestimmt würden sie alle Vicky nennen, gefällt dir das etwa?«
»Ich hätte nichts dagegen. Ich fände aber auch Anatolij, Iwan, Anja oder Katria schön.«
»Die gefallen mir alle nicht. Du kannst dein Kind doch unmöglich Anatolij nennen. Wie wär’s denn etwas weniger exotisch - Sarah, Simon, Jessica, Matthew?«
»Ja, Sam ist für Matthew. Aber wir wollen zumindest einen russischen Namen; schließlich bin ich Russin.«
Wendy schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Dann wird sich ein Kind immer eher zu dir zugehörig fühlen und das andere eher zu ihm. Willst du dich ein bisschen hinsetzen?«
Sie deutete auf eine kleine Grünanlage, in der unter
einem Pavillon eine Picknickgarnitur stand. Nicht besonders komfortabel, aber immer noch besser als gar nichts.
Nachdem sie Platz genommen hatten, sah Wendy Lena in die Augen und sagte: »Ich muss etwas mit dir besprechen.«
Lena musterte sie beunruhigt. »Was denn?«
Wendy lachte schallend, wobei sie ihre Zahnfüllungen entblößte. »Himmel, nun schau doch nicht gleich so besorgt, Lena.« Sie zuckte die Achseln. »Beckys Zimmer wird demnächst frei; sie zieht in einem Monat mit einer ›Freundin‹ in Leeds zusammen.«
Lena ahnte, was nun kommen würde und schüttelte bereits den Kopf. »Wir bleiben in London.«
»Hat Sam denn inzwischen eine Wohnung für euch gefunden?«
»Er sucht noch.«
»Aber nicht besonders engagiert, oder?«
Wider Willen musste Lena lächeln. »Das stimmt.«
»Ich glaube, das ist die Schreckstarre, Lena. Wenn du ihm sagst, dass du hier einziehen willst, dann wird er einwilligen, das weiß ich. Er ist erwachsen, aber er braucht immer noch seine Mum.«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Lena. »Sams Band ist in London.«
»Pah! Diese Band hat doch ohnehin keine Chance. Mal ganz ehrlich: Hast du es nicht satt, bei deiner Schwester und deiner Cousine zu wohnen?«
»Ich liebe sie sehr, alle beide. Wir verstehen uns gut.«
»Aber du würdest doch bestimmt lieber mit Sam zusammenwohnen. Mal sehen, wann er sein Versprechen wahr macht und dich heiratet.« Wendy tippte auf den Verlobungsring, der Auslöser einer heftigen Auseinandersetzung
gewesen war. Wendy hatte in der Tat getobt, als sie erfahren hatte, dass sich Sam das Geld dafür von seinem Großvater geliehen hatte. »Ihr hättet es viel einfacher, wenn ihr zu mir ziehen würdet. Ich könnte euch mit den Kindern helfen, du könntest etwas eher wieder arbeiten gehen, und Sam würde weniger unter Druck stehen.«
Natürlich hätte Lena gern mit Sam zusammengewohnt, und sie hatte sich auch schon gefragt, ob er tatsächlich die Absicht hatte, sie zu heiraten. Aber bei Sam dauerte eben alles etwas länger. Nun, noch es eilte es ja nicht. Einer seiner Freunde wollte demnächst aus seiner Wohnung in Greenwich ausziehen und sie untervermieten. Wann genau oder wie viel er dafür haben wollte, das stand allerdings noch in den Sternen. Und so verging Woche um Woche, und nichts geschah.
Auch was das Zusammenleben mit Natalja und Sofi anging, hatte Wendy recht. Sie kamen zwar nach wie vor gut miteinander aus, aber Lena litt zunehmend darunter, dass ihre
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