Ueber den Himmel hinaus - Roman
reichte ihm den Zettel mit Lenas Adresse. »Hier. Ich kann mir allerdings kaum vorstellen, dass sie dich wiedersehen will. Es wäre besser, du lässt sie in Ruhe.«
»Ich werde Lena schreiben und ihr die Entscheidung überlassen.«
»Sie wird dir nicht antworten.« Genau das befürchtete er auch. Deshalb musste er zu ihr fahren, sie persönlich um Verzeihung bitten. Aber wie sollte er nach England kommen? Uljana hatte etwas Geld gespart. Sie würde es ihm bestimmt leihen. Schließlich war diese Reise eine Zukunftsinvestition. Wenn er Natalja erst aufgespürt hatte, konnte er sie um Geld bitten. Ihr armer alter Vater. Sie würde sich bestimmt nicht lumpen lassen.
»Ich weiß genau, was du denkst, Viktor«, sagte Stasja.
»Du hast keine Ahnung.« Er las die Adresse. Briggsby. Wo zum Teufel war das? Es würde Monate dauern, alles zu organisieren. Er musste Englisch lernen. »Sag ihr nicht,
dass ich hier war«, bat er und hätte ihr am liebsten ins Gesicht gespuckt, als sie wissend lächelte.
»Keine Sorge, du hast sie schon oft genug enttäuscht. Ich werde mich hüten, ihr falsche Hoffnungen zu machen.«
Er faltete den Zettel zusammen und steckte ihn ein. »Danke für deine Hilfe, Stasja. Es war schön, dich wiederzusehen.«
Stasja schnaubte. »Geh und zeig dich dafür erkenntlich, indem du mich nie wieder belästigst.«
Diesen Wunsch konnte er ihr gern erfüllen.
Jeden Nachmittag ging Sofi mit Nikita in den Park. Sie spazierte die Grand Rue entlang und an der Statue an der Place du Marché vorbei, wo er stets im Kinderwagen auf und ab hopste und mit den Ärmchen ruderte, um ihr zu bedeuten, dass sie stehen bleiben sollte. Dann musste sie ihn Runde um Runde um die verwitterte steinerne Säule schieben, während er wie gebannt zu der Figur des kleinen Jungen starrte, die sich dort oben in den Himmel schraubte. Der Sommer wich bereits dem Herbst, es roch nach verbranntem Laub. Sie passierten das Tor zum Schlosspark, wo eine kühle Brise bunte Blätter von den Bäumen segeln ließ. Sofi folgte einem der Kieswege zum verlassen daliegenden Spielplatz, hob Nikita aus dem Wagen und setzte ihn auf die Schaukel.
Er hatte eben erst seinen ersten Geburtstag gefeiert und konnte schon fast jedes ihrer Worte wiederholen. Dass er noch nicht gehen konnte, enttäuschte sie zwar ein wenig, aber vielleicht war es ja so weit, bis sie in drei Monaten ihre Cousinen in London traf.
Sie hob ihn von der Schaukel, und er wedelte mit den Armen.
»Karussell?«, fragte sie.
»Ka-u-ssell?«, wiederholte er in exakt demselben Tonfall.
Sie trug ihn zum Karussell, doch wie üblich wollte er nur daneben im Gras sitzen und zusehen, während es sich im Kreis drehte. Sie betrachtete ihren kleinen Engel, der ihr nie Schwierigkeiten bereitete und sich stets ruhig und friedlich verhielt. Nach einer Weile setzte sie ihn wieder in den Kinderwagen.
»Mama möchte ein wenig spazieren gehen«, sagte sie. »Sie muss eine wichtige Entscheidung treffen.«
Sie hatte ein hektisches Jahr hinter sich. Im März waren die ersten Bestellungen hereingekommen; die Boutiquen hatten sich für den Sommer eingedeckt. Julien hatte sie überredet, keine Aufträge abzulehnen, sondern stattdessen einen Teil ihrer Arbeit auszulagern. In der neunzehnjährigen Francette, die nur eine Straße weiter wohnte, hatte sie eine geschickte Assistentin gefunden, die ihre halbfertigen Werkstücke nach Sofis Anweisungen mit Haken und Ösen, Federringen und anderen Verschlüssen versah und sich zudem um Verpackung und Versand kümmerte. Auf diese Weise konnte sich Sofi wieder vermehrt der künstlerischen Seite ihres Berufes - dem Entwurf neuer Designs - widmen, und es blieb noch genügend Zeit, um telefonisch ihre Kundenkontakte zu pflegen und neue Quellen für ihre Rohmaterialien zu erschließen. Morgens passte Julien auf Nikita auf, nachmittags Sofi. Vor einem Monat allerdings war Julien nach New York geflogen; er hatte ein Förderstipendium von einer angesehenen Galerie erhalten und würde erst in drei Wochen zurückkommen. Und im kommenden Jahr …
Im kommenden Jahr wurde es kompliziert.
Julien war nach Sydney eingeladen worden - für ein halbes
Jahr. Sofi wollte nicht nach Australien, aber sie würde ihn auch nicht abhalten. Die Trennung war nicht das eigentliche Problem. Sie vertrauten einander und konnten es sich leisten, täglich zu telefonieren. Und Nikita war noch so klein, dass er Juliens Abwesenheit vermutlich gar nicht registrieren würde.
Doch sie würde sich
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