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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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notwendigen Schlaf vorausgehen sollte.
    Es blieb vergeblich. Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Olaf wälzte sich unruhig in den Kissen, bis er es nicht mehr aushielt.
    Ein Blick auf die Uhr bewies ihm die frühe Stunde, doch hielt er es nicht mehr aus, in seinem Bett zu bleiben.
    Die Wärme Christians an seiner Seite war längst verflogen. Er hatte sie gesucht, sobald er sich sicher war, dass der Jüngere sich gefügt und endgültig aufgegeben hatte.
    Olaf rollte sich zurück auf den Platz der Matratze, den sein Bruder inne gehabt hatte, versuchte etwas von ihm zu behalten, seinen Geruch wahrzunehmen, seine Anwesenheit zu spüren.
    Bis er in plötzlichem Erschrecken auffuhr. Er kletterte etwas zu überhastet aus dem Bett, getrieben von dem Wunsch, die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen.
    Nun stand er inmitten seines Zimmers, presste die Hände gegen seine Schläfen und wünschte sich, ein Ende finden zu können, ein Ende für seine wirren Gefühle, die verbotenen Gedanken, die ihn quälten.
    Mit einem Stöhnen gab er auf, tappte durch den Raum und schaltete das Licht an. Danach machte er sich daran, die spärlichen Habseligkeiten, die er mitgebracht hatte, wieder zu packen. Er ordnete den Inhalt seiner Schränke, verschaffte sich einen Überblick über die Überbleibsel seiner Kindheit, versuchte zu entscheiden, welche der Gegenstände es wert waren, aufbewahrt zu werden, vielleicht sogar mitgenommen, dorthin wo er wirklich wohnte, wo sein Zuhause war oder wo es sein werde.
    Nicht hier, in diesem fremden Haus, dieser fremden Umgebung, mit diesen Menschen, die ihn verwirrten und deren Gefühle ihn quälten. Ihn quälten, ob sie vorhanden waren oder nicht.
    Kurz, Olaf tat alles, um sich von den Gedanken abzulenken, die ihn dennoch unvermeidlich in ihrem Bann hielten.
    Schließlich wusste er sich keinen anderen Rat mehr. Ein Blick auf die Uhr erzählte ihm, dass es immer noch bei Weitem zu früh für einen Aufbruch war. Doch Olaf wusste, dass er keine Wahl hatte.
    Er löschte das Licht, nahm sein Gepäck und verließ das Zimmer, das Haus. Erst, als er draußen in der Kälte, in der Dunkelheit stand, atmete er auf und begann zu laufen. Ja, er rannte förmlich, erleichtert je weiter er sich von dem Gebäude entfernte, drängte jeden Gedanken an Christian mit aller Macht zurück.
    Seine Muskeln arbeiteten, seine Lungen sogen kalte Luft ein und stießen sie in sichtbaren weißen Wolken wieder aus.
    Nur die Illusion von Freiheit, um mehr handelte es sich nicht, und doch klammerte Olaf sich an diese, klammerte sich so stark an sie, wie an den Strohhalm, der ihm das Leben retten sollte.
    Er erreichte das Auto, verkratzte den Lack an der Wagentür, als er fahrig das Schloss suchte, riss die Tür auf und ließ sich mit einem erleichterten Stöhnen auf den Fahrersitz fallen.
    Er startete ungewohnt unbeholfen den Motor und brauste davon, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob das Quietschen der Reifen, das Startgeheul des Wagens Aufmerksamkeit im noch nicht allzu weit entfernten Gebäude erregen sollte.
    Er konnte nicht wissen, dass Christian an seinem Fenster stand, dass der Jüngere sich mühsam zurückgehalten hatte, sich selbst verboten, den Bruder noch einmal aufzusuchen.
    Er ahnte nicht, dass dieser stumme Tränen weinte, dass er sich nach einem Zeitraum, der ihm wie eine Ewigkeit erschien, endlich in der Lage fühlte, sich in sein Bett zurückzuziehen, sich dort zusammenrollte und versuchte das Schluchzen zu unterdrücken, das seinen Körper schüttelte. Allein, wieder allein und dies auf unbestimmte Zeit.
    Allein, wieder allein, fühlte sich auch Olaf, als er sich an dem Steuer festhielt und den Wagen beschleunigte, der ihn Kilometer für Kilometer von dem Ort seiner Kindheit fort brachte.
    Und je weiter er sich entfernte, desto freier bewegten sich seine Gedanken, desto stärker näherten sie sich den verbotenen Gefilden.
    Ein schmaler Streifen Morgenlichtes tauchte am Horizont auf, ließ Olaf unweigerlich aufatmen, spendete Trost und Hoffnung und verführte gleichzeitig zum Erwecken jener Bilder, vor denen er floh.
    Christian, der in seinem Bett lag, der nicht zum ersten Mal in seinem Bett lag. Christian, der ihn küsste.
    Olaf erschauerte und beschleunigte den Wagen. Das musste aufhören, ein Ende haben. So konnte es nicht mit ihnen, mit ihm weitergehen.
    Es war krank – er war krank. Und das Schlimmste bestand darin, dass er es wusste, wusste, dass es falsch war, aber nicht in der Lage war,

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