Ueber den Horizont hinaus - Band 1
Olaf Christian ansah, konnte er kaum glauben, dass er den kleinen Jungen vor sich hatte, der sich einst so bedingungslos an ihn gekuschelt hatte.
Christian verzog seine Lippen für einen Moment, als dächte er nach, obwohl Olaf sich sicher war, dass der andere sich jedes Wort zuvor sorgfältig überlegt hatte.
„Ich gehe nicht in die Wirtschaft“, stellte er dann fest, ein wenig unsicherer, als es ihm wohl lieb gewesen wäre.
Olaf zog die Augenbrauen zusammen. „Na und?“ Offenbar wartete er auf eine Antwort, die Christian noch nicht bereit war zu geben.
„Ich sehe da noch kein Problem. Du kannst alles studieren, was du willst?“
Nun war es Christian, der verächtlich schnaubte. „Ich möchte wissen, woher du diese Überzeugung nimmst.“
„Naja.“ Olaf räusperte sich, schob dann seine Hände in die Hosentaschen des Anzugs, den er immer noch trug.
„Wenn du dein Abitur in der Tasche hast, steht dir doch alles offen.“
„Alles, womit sie einverstanden sind“, sagte Christian auf einmal leise geworden. „Und da bleibt nicht viel übrig.“
Olaf atmete aus, spürte, wie er sich langsam beruhigte. Also darum ging es, eigentlich kein Wunder.
Hatten doch die vereinzelten Briefe seines Bruders doch auch in erster Linie von der angedeuteten Problematik gehandelt.
Eine Zeit lang glaubte Olaf tatsächlich, dass Christian mit der schriftlichen Konzentration auf das Thema seiner Ausbildung von dem ablenken wollte, was zwischen ihnen geschehen war.
Zudem war er selbst nur allzu froh gewesen, jeden Hinweis darauf von anderen, verständlicheren Themen überschatten zu lassen.
Eigentlich hatte er versucht, buchstäblich jeden Gedanken an seinen Bruder in sich abzutöten, fortzuschieben in einen Bereich der normal erschien, normal für einen Verwandten, den ein doch nicht unerheblicher Altersunterschied von dem anderen trennte und der Gefahr lief, sich selbst in abstrusen Vorstellungen zu verstricken.
Miit Sicherheit, so ließ es sich nun nicht mehr leugnen, bestand ein direkter Zusammenhang zwischen Christians augenscheinlich Hals über Kopf erfolgten Abreise und der Distanz, mit der Olaf diesen nun seit Monaten behandelte.
Nicht einen Moment hatte er darüber nachgedacht, was sein Verhalten in dem Jüngeren auslöste, hatte nicht darüber nachdenken wollen oder können.
Die erste Zeit war er wie auf Watte gelaufen, entfernt von seiner Realität, in Gefahr jederzeit zurückzufallen, abzustürzen, zurückzufahren ohne innezuhalten, nur um sich zu vergewissern, dass Christian da war, dass er existierte, dass es ihm gut ging.
Doch die Monate waren vergangen und Olaf hatte sich allmählich darin gefallen, keine Schwäche zuzulassen.
Es war zu seinem Besten, zu Christians Bestem, so sagte er sich, wieder und wieder, wenn die Gedanken, die Träume wiederkommen wollten.
Wenn er einen von Christians Briefen in den Händen hielt, zu lange in seinen Händen hielt, zu fest, zu nah an seinem Gesicht, als könnte er mit dem Papier den Duft des Bruders aufnehmen, sein Wesen, seine Gemütslage erforschen.
Eine Wahl hatte er im Grunde nie gehabt. Bis auf diesen Moment, in dem er seinem Bruder gegenüberstand. Christian, der Hilfe suchte, oder vielleicht nur Bestätigung. Vielleicht auch Abstand von den Eltern, ein Bedürfnis, das Olaf durchaus verstehen konnte.
Olaf rieb sich die Stirn. „Hör zu“, meinte er dann, hielt jedoch inne, als ihm die Worte ausgingen. Er räusperte sich unsicher, sah dann den Jüngeren an, der augenscheinlich an Olafs Lippen hing.
„Es dauert nicht mehr lange. Viel Zeit muss nicht mehr vergehen, dann bist du erwachsen, und keiner kann dir mehr etwas vorschreiben.“
Gleichzeitig mit diesen Worten fragte Olaf sich, wem er hier eigentlich etwas vormachte. Als wäre auch nur ein Augenblick seines eigenen Lebens vergangen, in dem er nicht unter vollständiger Kontrolle seiner Eltern gestanden hatte.
Als kenne er die Freiheit, von der er Christian erzählte. Und in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass es sich lediglich um seinen Wunschtraum handelte, den er auf den Jüngeren projizierte.
Nichts Anderes, als seine eigene Vorstellung von dem Leben, wie es für Christian sein sollte. Und diese hatte möglicherweise nicht viel gemein mit dem Leben, wie es sich für den Jüngeren tatsächlich darstellte.
Christian wartete, sah ihn immer noch an, als erwarte er etwas von ihm, etwas, von dem Olaf nun wusste, dass er es ihm würde nicht geben können.
Den Ratschlag eines Bruders.
Olaf
Weitere Kostenlose Bücher