Ueber den Horizont hinaus - Band 1
etwas dagegen zu tun, diese Gedanken, diese Gefühle aus seinem Leben zu verbannen.
Er war der Ältere, er war erfahren und klug genug, um seine Verantwortung zu erkennen und wahrzunehmen.
Zur Hölle, er war erwachsen.
Olaf schlug gegen das Lenkrad. Er trug die Verantwortung, er zog die Fäden. Chris war nur ein Kind, er wusste nicht, was er tat. Chris war unschuldig, getrieben von seinen Gefühlen, und er selbst – der große Bruder – war nicht imstande, dem Jüngeren so beizustehen, wie dieser es verdiente.
Stattdessen verstrickte er sich in seinen eigenen, verwirrten Vorstellungen und ließ es zu, dass diese ihn dominierten, dass seine Schwäche ihn regierte, ihm das zerstörte, was er sich so hart erarbeitet hatte, worauf er hinsteuerte.
Seine Eltern verließen sich auf ihn, sein Bruder sollte sich auf ihn verlassen können.
Ein Schnitt war notwendig, ein klarer Schnitt, damit er zu seinen Sinnen zurückfand.
Olaf musste ein Zeichen setzen, für sich selbst und für alle Anderen, beweisen, dass er der Mann war, für den man ihn hielt.
Es reifte ein Entschluss in ihm, reifte mit jedem Stück Straße, das er entlang fuhr.
*
Erst ein halbes Jahr später sahen sie sich wieder, genau dann als Christian unangekündigt vor seiner Tür stand.
Obwohl Olaf nicht unbedingt behaupten konnte, dass der Besuch überraschend kam, fiel er dennoch aus allen Wolken, als er die Tür öffnete und in Christians bittende Augen blickte.
Rasch riss er die Tür vollkommen auf. „Was tust du hier?“, fragte er schockiert.
„Wissen… wissen unsere Eltern, wo du bist?“
Christian wagte ein zaghaftes Lächeln, bevor er seinen Rucksack von der Schulter schwang und demonstrativ an seiner Seite abstellte. „Das brauchen Sie nicht zu wissen.“
Olaf schüttelte den Kopf. „Was soll das heißen. Bist du verrückt geworden?“
Er seufzte, winkte dann den Jüngeren in die Wohnung.
„Nicht verrückt“, verkündete Christian. „Fast erwachsen, würde ich eher sagen.“
Er nahm seinen Rucksack auf und folgte der Einladung des Größeren, sah sich dann neugierig in Olafs vier Wänden um.
„Erwachsen?“, schnaubte Olaf. „Du meinst, es wäre erwachsen, ohne Abmeldung zu verschwinden, geschweige denn ohne Vorankündigung hier aufzutauchen.“
Christian zuckte mit den Schultern. „Was hätte passieren sollen? Ich wusste, dass du da bist.“
Er grinste leicht, doch Olaf kannte ihn gut genug, um den unbehaglichen Ausdruck seiner Miene richtig zu deuten.
Er nahm den Hörer des Telefons ab. „Unsere Eltern haben wahrscheinlich schon die Polizei alarmiert.“
Schneller als erwartet, legte Christian die wenigen Schritte, die sie trennten, zurück und seine Hand auf die Olafs.
„Bitte nicht“, flehte er leise und Olaf spürte die Finger des Jüngeren heiß auf den seinen, den Blick des anderen in einen Teil seiner Seele vordringen, den er längst verschlossen zu haben glaubte.
Zu seinem Schrecken fühlte er die Fassade bröckeln, die mühsam aufgebauten Wände des Selbstschutzes bersten.
„Bitte“, wiederholte Christian, doch Olaf schüttelte nur den Kopf.
„Was denkst du dir nur?“, fragte er leise. „So geht es doch nicht.“
Christian blickte ihn groß an. „Sie merken doch gar nicht, dass ich fort bin. Da gehe ich jede Wette ein.“
Olaf seufzte. „Sie sind doch nicht blind oder taub. Etwas ist passiert, du hast Ferien, du hast Ärger – vor allem mit Ihnen, und auf einmal bekommen sie dich nicht mehr zu Gesicht. Ich habe keine Lust auch noch Schwierigkeiten zu bekommen.“
Zögernd zog Christian seine Finger zurück, sah widerwillig zu, wie Olaf die Schnellwahltaste betätigte und nach einigen Momenten des Schweigens, in denen er Christian mit gerunzelter Stirn musterte, eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter ihrer Eltern hinterließ.
Christian verdrehte die Augen, ganz jugendliche Bockigkeit. „Na toll, jetzt wissen sie Bescheid.“
Olaf hängte das Telefon ein. „Und wissen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen.“
Er stemmte die Hände in die Hüften, als könnte die Geste seinen Standpunkt verstärken, ließ dann sein Kinn auf die Brust sinken und blickte auf den Boden, bevor er weitersprach.
„Also, was war los?“
Christian verschränkte die Arme vor der Brust, dünne Arme, fast noch dünner, als Olaf sie in Erinnerung hatte.
Die Gestalt des Jüngeren erschien ihm ohnehin in die Höhe geschossen, die Gesichtszüge erwachsener, der Schatten der Bartstoppeln ausgeprägter.
Wenn
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