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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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für dich getan hat.“
    Doch Olaf hörte, fühlte die aufgehende Saat des Zweifels in ihrer Stimme. Er erinnerte sich an das erste Mal, als er seine Mutter mit Christian gesehen hatte, an eine Zusammengehörigkeit, die vielleicht verschüttet, dennoch vorhanden war.
    „Ich bitte euch nur, ihm nicht weh zu tun“, sagte er leise, den Blick immer noch zu Boden gesenkt.
    Schweigen dehnte sich zwischen ihnen aus. Dann ging seine Mutter auf ihn zu, legte eine Hand auf seine Schulter und küsste ihn mit kalten Lippen auf die Stirn, auf die Stelle, auf die er selbst Christian zuvor geküsst hatte.
    „Du gehst jetzt“, sagte sie. „Ich rufe das Taxi.“
    „Helena?“, brummte Hannibal. „Ich bin nicht sicher, ob wir das so stehen lassen können.“
    „Doch, das können wir.“
    Helenas Blick verließ für keinen Augenblick den Olafs.
    „Du siehst draußen nach dem Wagen. Wir erwarten dich zu den Feiertagen.“
    Olaf nickte stumm und drehte sich um.
    Sein Rucksack stand unberührt dort, wo er ihn am Morgen zurückgelassen hatte und er nahm ihn auf und verließ das Haus, schritt die Stufen hinunter und ging zur Einfahrt vor, von wo aus er auf das Taxi wartete, das ihn direkt zum Bahnhof und gerade noch rechtzeitig zu der Verbindung brachte, die er erreichen musste, um seine Pflichten zu erfüllen.
    *
    Er kehrte bereits vor den Feiertagen zurück, noch bevor er seinen Dienst antrat. Während der letzten Tage der Prüfungen rief Helena ihn an, und bereits mit den ersten Worten, mit dem Klang ihrer Stimme, wusste er, dass etwas nicht in Ordnung war.
    „Es ist Christian“, sagte sie. „Verdacht auf Leukämie.“
    Was danach geschah erlebte Olaf in einem Nebel. Als wäre die Welt stehen geblieben und er bewegte sich hilflos zwischen den wenigen Fixpunkten, die ihm doch zu entgleiten schienen, je näher er ihnen kam.
    Die Ärzte sprachen ernst mit ihm und er nickte nur. Wie konnten sie das auch fragen? Wie konnten sie nur einen Moment glauben, er würde es nicht tun wollen?
    Der Schmerz und die Angst, wenn er Christian so klein und schwach in dem großen, weißen Krankenbett sah, überwältigten ihn, sobald er alleine war.
    Denn neben seinem Bruder musste er stark sein, der Große, die Hoffnung, eine Stütze.
    Und die war er ihm. Es funktionierte. Tatsächlich und wie durch ein Wunder ging es Christian besser, von Tag zu Tag. Er überstand den Eingriff, die Medikation mit der schier unerschöpflichen Kraft, die zu überwältigend für ein Kind wie ihn erschien.
    Und Olaf blieb, er saß an seinem Bett. Er unterhielt ihn durch die Glasscheibe, trotz Mundschutz und steriler Kleidung. Er brachte ihm Comics, Bücher, Cassetten und CDs. Und hielt Christians Hand, bis dieser wieder lächelte. Bis das Grau in seinem Gesicht einer gesünderen Gesichtsfarbe wich, bis der größte Schrecken überwunden war.
    Doch als Olaf sein Leben wieder aufnahm, war da immer noch dieser leise Stich, dieses Nagen der Ungewissheit, die Angst, dass all dies nur vorübergehend war, dass er ihn verlieren würde, verlieren könnte.
    *
    Sie sprachen nie darüber. Nicht einmal mit Christian und für Olaf war die Erfahrung zu schmerzhaft, als dass er freiwillig davon angefangen hätte.
    Sein Leben holte Olaf wieder ein und die Grundausbildung bot genügend Ablenkung. Zumindest erhoffte er sich dies. Er genierte sich nicht mehr, sondern pinnte das neueste Foto seines Bruders an die Wand seiner Baracke, so dass es ihn begrüßte, wenn er aufwachte und er sich vor dem Einschlafen vergewissern konnte, dass es noch da war.
    Sein Leben lag klar vor ihm ausgebreitet, und wenn er darüber nachdachte, so war dies schon immer so gewesen. Ein Plan, aus dem es kein Entkommen gab, der gezeichnet war, noch bevor er existiert hatte.
    Olaf wachte manchmal auf, für den Bruchteil einer Sekunde nur, wenn er einen seiner Kameraden von Entscheidungen sprechen hörte, wenn dieser abwog, in welche Richtung er sein Leben lenken sollte. Und er wunderte sich, wie oder wieso derjenige vor einer Möglichkeit wie dieser stand, woher er die Freiheit nahm, Entscheidungen wie diese zu treffen.
    Zum Glück kam das selten genug vor, befanden sich doch unter den Offiziersanwärtern genügend junge Männer, deren Karrieren von der Familie geplant, bestimmt waren, ebenso wie die seine.
    Die Zeit verging und Olaf ersetzte regelmäßig das Bild von Christian mit einem Neuen.
    Der Junge wuchs und blieb gesund und jedesmal, wenn Olaf ihn verließ, um zu seiner Einheit zurückzukehren, wuchs

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