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Über den Wassern

Über den Wassern

Titel: Über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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»Es muß aber doch schon eine Weile her sein. Du bist jetzt ja ganz erwachsen, Sohn. Älter als ich, nicht wahr?«
    »So ungefähr gleichaltrig inzwischen.«
    »Und bist ein Doktor. Ein guter, wie ich höre.«
    »Nein, nicht wirklich. Ich geb mein Bestes. Aber das ist nicht gut genug.«
    »Dein Bestes ist immer gut genug, Valben, wenn es wirklich dein Bestes ist. Das habe ich dir doch oft genug gesagt, aber wahrscheinlich hast du mir nicht geglaubt. Solange du dich nicht schonst und dich drückst, solange dir wirklich was an deiner Arbeit liegt. Ein Arzt, Junge, der kann im Privaten ein absoluter Schweinehund sein, aber solange er sich um seine Patienten sorgt, ist er in Ordnung. Solang er begreift, daß er da ist, um zu beschützen, zu heilen, zu lieben. Und ich glaube, du hast das begriffen.« Er setzte sich ans Ende der Koje. Er schien sich hier durchaus nicht fremd zu fühlen. »Du hattest keine Familie, nicht wahr?«
    »Nein, Herr... Vater.«
    »Schlimm-schlimm. Du wärst auch ein guter Vater geworden.«
    »Wär ich das?«
    »Es hätte dich natürlich verändert. Aber ich denke, zum Besseren. Bereust du es nicht?«
    »Ich weiß nicht so recht. Vielleicht. Ich bereue eine ganze Menge. Ich bedaure, daß meine Ehe schiefgegangen ist. Daß ich nie wieder geheiratet habe. Ich bedaure, daß du so schrecklich früh gestorben bist, Vater.«
    »War es denn so früh?«
    »Für mich schon.«
    »Ja. Ja, wahrscheinlich hast du recht.«
    »Ich hab dich geliebt, Vater.«
    »Auch ich hab dich geliebt, Junge. Ich liebe dich immer noch. Ich liebe dich sehr. Und ich bin sehr stolz auf dich.«
    »Du redest, als lebtest du noch. Aber das alles ist bloß ein Traum. Also kannst du sagen, was du willst, ja?«
    Die Gestalt erhob sich und trat wieder ins Dunkel zurück. Es sah aus, als umhüllte sie sich mit Schatten.
    »Es ist kein Traum, Valben.«
    »Nein? Ja also dann... Du bist doch trotzdem tot, Vater. Schon seit fünfundzwanzig Jahren. Wenn das kein Traum ist, wieso bist du dann hier? Wenn du ein Gespenst bist, ein Geist, wieso hast du dir so lange Zeit gelassen, bevor du mich heimsuchst?«
    »Weil du niemals zuvor dem ‚Antlitz’ so nahe gewesen bist.«
    »Was hat denn das mit dir oder mir zu tun?«
    »Ich lebe dort, Valben.«
    Lawler mußte unwillkürlich lachen. »Sowas könnte ein Gillie sagen. Nicht du.«
    »Nicht nur Gillies werden dorthin versetzt und wohnen dort, mein Sohn.«
    Die ruhige, sachliche und bestürzende Behauptung hing in der Luft wie eine Wolke voll ansteckender Giftkeime. Er begann allmählich zu begreifen, und in ihm stieg Verärgerung auf.
    Er fuchtelte mit den Händen wütend gegen das Phantom. »Verschwinde von hier. Laß mich schlafen!«
    »Ist das eine Art, mit deinem Vater zu sprechen?«
    »Du bist nicht mein Vater. Du bist entweder ein besonders übler Traum oder eine trügerische Illusion, die von irgendeinem telepathischen Seeigel oder Drachenfisch da draußen im Ozean ausgelöst wird. Mein Vater würde niemals so was gesagt haben. Nicht mal wenn er als Gespenst wiederkommen würde - was er übrigens ebenfalls nicht getan hätte. Herumspuken, das hätte nicht zu seinem Stil gepaßt. Also, verschwinde und laß mich in Ruhe!«
    »Valben, Valben, Valben!«
    »Was willst du denn noch? Wieso läßt du mich denn nicht in Frieden?«
    »Valben, mein Junge...«
    Lawler merkte plötzlich, daß er die hohe Schattengestalt nicht mehr sehen konnte.
    »Wo bist du?«
    »Überall um dich herum und nirgendwo.«
    Lawler schwirrte der Kopf. In seinem Magen drehte sich etwas. Im Dunkel tastete er nach seiner Taubkrautflasche. Dann fiel ihm ein, daß sie leer war.
    »Was bist du?«
    »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, und wäre er auch tot, soll das Leben haben.«
    »Nein!«
    »Gott schütz dich, alter Seemann! Vor deinen bösen Feinden, die dich so quälen...«
    »Das ist Wahnsinn! Hör auf! Schluß damit! Verschwinde von hier! Raus!« Er zitterte jetzt, als er nach seiner Lampe tastete. Das Licht würde diesen Spuk vertreiben. Doch noch ehe er die Lampe fand, spürte er mit großer Schärfe, daß er wieder allein war, und begriff, daß die Vision (oder was sonst es gewesen war) ihn freiwillig verlassen hatte.
    Dieses Verschwinden hinterließ eine unerwartete, sirrende Leere.
    Lawler empfand das wie einen Schock, wie nach einer Amputation. Dann hockte er eine Weile auf der Kante seines Lagers, schweißüberströmt und frierend wie in den scheußlichsten Momenten seiner Entzugsphasen.
    Dann

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