Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
hintertreibt sie regelrecht, indem er mit Vorliebe Indiskretionen und Peinlichkeiten aufnimmt, die bei Bekanntgabe sein bürgerliches Leben ruinieren sollen. Zwar sind die Enthüllungen weit harmloser, als es ihm selbst vorkommt, bergen seine Existenz und seine Seele offenbar auch keine tieferen Abgründe als Existenz und Seele anderer gewöhnlicher Menschen, und würde er im Falle einer Veröffentlichung allenfalls die eine oder andere Unterlassungsklage riskieren, die auszufechten ihm selbst vollkommen lächerlich erschiene – doch zunächst hilft ihm das Konstrukt der Publikumsverweigerung, sich von dem Anspruch der Verwertbarkeit zu lösen, den er zunehmend als zwanghaft empfindet.
Zwischen 1999 und 2007 veröffentlichte der Romanschreiber beinah zwei Bücher pro Jahr, zugegeben Essays und Aufsatzsammlungen darunter, aber dafür zusätzlich unzählige Artikel, Reden und Vorworte, stieß Projekte an, eilte immer wieder für Wochen besinnungslos von Podium zu Podium, unternahm lange Reisen, forschte, lehrte und führte außerdem ein sogenanntes Privatleben, das seine regelmäßigen Krisen und Grenzerfahrungen hatte. Daß er dennoch so viele Veröffentlichungen vorzuweisen hat, weist auf einen Utilitarismus hin, an dem die Eitelkeit noch das literarisch Unbedenklichste ist. Erst als die äußeren Umstände noch das Mindestmaß an Kontinuität und Konzentration zunichte machen, das für sein Schreiben zwingend war, befreit er sich, und sei es mit Hilfe der Prämisse, daß er nur Abfall produziere, vom Leser. Nur so gelingt es ihm, das Buch, das er schreiben will, tatsächlich zu beginnen: indem er sich den Gedanken an ein Ergebnis und damit eine Ordnung verbietet.
Wie er sich dem hingibt, was ihm die Tage bringen, entstehen Bruchstücke eines anderen Romans, der nicht beabsichtigt und als solcher äußerlich nicht unterscheidbar ist von dem übrigen Abfall, gleichwohl er die Möglichkeit bald nicht mehr ausschließt, diesen Roman im Roman später einmal herauszutrennen und gesondert herauszubringen. Ohne das Illusorische seiner Prämisse also länger zu leugnen, hält er an ihr fest, da sich ihm scheinbar eine Möglichkeit aufgetan hat, die Wirklichkeit angemessener zum Ausdruck zu bringen als wie bisher in Texten mit Anfang und Ende, innerer Logik und fortlaufender Handlung, dramaturgischen Eingriffen und stilistischer Kohärenz. Er meint, zufällig dem Zufallsprinzip auf die Spur gekommen zu sein, das für jede religiöse und künstlerische Weltanschauung notwendig ist, um es bestreiten zu können.
Weil die Abfolge von Hölderlins Wäschelisten und verworfenen Gedichten, Ausgabeverzeichnissen und Briefen, Namenslisten und philosophischen Gedanken der Unordnung seiner Tage entspricht, wird der Romanschreiber erst 757 Seiten der ersten Fassung später begreifen, was es mit dem Schnäppchen auf sich hat, das noch weit sonderbarer ist als der Roman, den ich schreibe. Sie hingegen, die Hörerinnen und Hörer der diesjährigen Frankfurter Poetikvorlesung, ahnen wahrscheinlich längst, daß es sich bei dem Schnäppchen um die Leseausgabe des ebenso berühmten wie berüchtigten Frankfurter Hölderlins handelt, der seinen Anfang am 6. August 1975 nahm, als D.E. Sattler und sein ebenso junger und erst recht marxistischer Verleger KD Wolff auf einer Pressekonferenz unweit dieses Hörsaals im Hotel Frankfurter Hof ihre Prinzipien der Textkritik wie ein Manifest verkündeten: durchgehende Faksimilierung sämtlicher Handschriften und ihre exakte Transkription, Absage an die Hierarchisierung verschiedener Textvarianten, konsequente Überprüfbarkeit aller editorischen Entscheidungen. Das bleibende Verdienst von 68 nannte Jürgen Habermas die Frankfurter Ausgabe, die über alle Krisen, Insolvenzen und Zerwürfnisse hinweg gewachsen und nun, wenn zwar mit knapp dreißigjähriger Verspätung abgeschlossen ist: Im Stroemfeld Verlag , wie der Rote Stern seit seinem Untergang heißt, erschien im Herbst, die Hälfte zweier Leben nach der legendären Frankfurter Pressekonferenz, der zwanzigste und letzte Band der Frankfurter Ausgabe.
Die Revolution, die D.E. Sattler und KD Wolff damit vollbracht haben, besteht nicht aus den Taten, für die sie 1968 demonstrierten, und nicht einmal aus Wörtern, sondern aus Schrifttypen: Leichte Grotesk für frühere Textschichten eines Manuskripts, mittlere Grotesk für mittlere Schichten, schwere Grotesk für spätere Schichten, dazu schmale Grotesk mittel für weitere Texte der früheren Schichten
Weitere Kostenlose Bücher