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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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in der Wäschetüte, die er aus dem Krankenhaus mitnahm. Ist Hyperions Schmerz himmlischer Natur, hat der Romanschreiber nur die gewöhnlichste Not, das gemeinsame Kind allein zu versorgen, fehlende Anerkennung, tiefgreifende Selbstzweifel, finanzielle Engpässe, Lohnarbeiten. Und dann diese Lebensweisheiten, bei denen schon sein erster Philosophieprofessor eine Erektion bekam
     
    Wer nur mit ganzer Seele wirkt, irrt nie 2
     
    aber selbst die Lehrveranstaltungen seit zwanzig Jahren an zwei Tagen abgewickelt und fünf Monate Semesterferien, um die Seele ganz auf Kreta baumeln zu lassen. Laß mich mit deinem Griechengedärm in Frieden, Hölderlin! schreit der Romanschreiber vielleicht auch deshalb so laut, weil er sich vom Leser beobachtet wähnt, und feuert das Schnäppchen in die Ecke, Band fünf, um genau zu sein. Dabei hätte er nur aufmerksamer lesen müssen, um das Programm des Romans zu finden, den ich schreibe.
     
    Wir bedauern die Todten, als fühlten sie den Tod, und die Todten haben doch Frieden. Aber das, das ist der Schmerz, dem keiner gleichkömmt, das ist unaufhörliches Gefühl der gänzlichen Zernichtung, wenn unser Leben seine Bedeutung verliert, wenn so das Herz sich sagt, du mußt hinunter und nichts bleibt übrig von dir; keine Blume hast du gepflanzt, keine Hütte gebaut, nur daß du sagen könntest: ich lasse eine Spur zurük auf Erden. Ach! und die Seele kann immer so voll Sehnens seyn, bei dem, daß sie so muthlos ist! 3
     
    Um entsprechend der Poetik, die ich vergangenen Dienstag vorstellte, dem zu folgen, was sich von selbst ergibt – zwar nicht zu »schlafen, wenn man müde ist, zu essen, wenn man hungert«, für den Anfang immerhin zu schlafen, wenn ein Bett da ist, zu essen, was auf den Tisch kommt, probiert es der Romanschreiber nach dem Vorgriff auf Hyperion mit der ordnungsgemäßen Reihenfolge und also mit Band eins der sämtlichen Werke, Briefe und Dokumente Hölderlins. Erst jetzt fällt ihm auf, wie sonderbar sein Schnäppchen ist. Über Dutzende, nein Hunderte von Seiten besteht es aus nichts anderem als aus Namenslisten von Schulklassen, Prüfungsorten und -tagen nicht nur von Hölderlin allein, sondern von schwabenweit allen Kandidaten seines Jahrgangs und Examens, Ausgaben- und Vermögensverzeichnissen, Hausordnungen, Wäschelisten, frühesten, bald widerrufenen Gedichte in verschiedenen Varianten, abgeschickten und weggeworfenen Briefen. So lebensnah wie ein Abfallkorb hat der Romanschreiber sich Hölderlin nun auch wieder nicht vorgestellt. Und doch öffnen ihm just die Gebrauchszettel, Alltagszeugnisse und Aufzählungen einen Zugang zu Hölderlin, da er selbst nichts anderes mehr als Abfall zu produzieren scheint.
    In dem Roman, den ich schreibe, ist der Romanschreiber im Sommer 2006 in Umstände geraten, die das Arbeiten, wie er es gewohnt ist – man geht in sein Büro, schließt die Tür hinter sich und schreibt oder liest am Tag mindestens acht Stunden, meist mehr –, unmöglich machen. Weder ist er seelisch dazu in der Lage, noch hat er überhaupt Zeit. Termine, die nicht er festlegt, zerstückeln seine Tage. Gleichwohl hat er eine Vorstellung, nein, ein Bedürfnis nach dem Buch, das er schreiben will, aber weil es auf absehbare Zeit unmöglich erscheint, damit zu beginnen, beginnt er zu notieren, was ihn in dem Augenblick abhält, in dem er seinen Laptop einschaltet und die Datei öffnet. Selten geschieht das am Schreibtisch, häufiger in Krankenhausfluren, Wartezimmern, auf dem Schulhof, in Zügen, in Flugzeugen oder während er telefoniert. Ja, manchmal macht er sich Notizen, während er einem Radiosender live ein Interview gibt oder protokolliert heimlich private Gespräche. Er ist überhaupt fast nie mehr ohne Computer unterwegs und wünscht sich zum vierzigsten Geburtstag eigens ein besonders kleines und leichtes Gerät, das in jede Tasche paßt. Auch wenn er die pathologischen Züge nicht verkennt (tatsächlich ist es eine Therapie, für die er sonst einen Psychiater bräuchte), nimmt er seine Sucht als eine Erleichterung wahr, ja als Befriedung. Die pathetischen Ausdrücke, mit denen der Romanschreiber selbst das Gefühl bezeichnet, zitiere ich besser nicht, da sie allzu sehr an Hyperions Wallungen erinnern.
    Zuteil werden ihm die Momente des Friedens, da er sich zum ersten Mal seit den Tagebüchern des Heranwachsenden, der sie in der Schublade einschloß, nicht an einen Leser wendet. Er verweigert sich nicht nur einer späteren Veröffentlichung, sondern

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