Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
und schmale Grotesk schwer für weitere Texte der späteren Schichten. Durch Striche, drei Formen der Klammer, Unterstreichungen, Unterpunktungen, Balken, Schrägstriche, Fragezeichen, Leerstellen und Zahlen sind außerdem unterschieden: gestrichener, überlagerter, eingeklammerter, nicht entzifferter, unsicher entzifferter, verlorener und nicht sicher als Streichung erkennbarer Text, Ergänzungen innerhalb eines Wortes und Ergänzungen innerhalb einer Linie, Einfügungs- und Trennlinien sowie Zeilenzählungen. Die jeweiligen Textphasen (lateinische Zahlen) sind in der typographischen Umschrift noch einmal aufgeteilt in Phasensegmente (lateinische Großbuchstaben). Die Einträge fremder Hände auf den Manuskriptblättern werden durch verschiedene Typen der Antiqua kenntlich gemacht. Neben dem Faksimile und der Transkription steht als Vorstufe zum sogenannten »emendierten Text« noch die Aufstellung der möglichen Lesarten. Mit Hilfe weiterer Schrifttypen- und größen, Zahlen, Pfeilen, Klammern und Striche bietet die Aufstellung immerhin noch etwa zwanzig zusätzliche Möglichkeiten an, die Varianten, Zeilenumbrüche und Verszählungen desselben Textes sowie die editorischen Bemerkungen und Eingriffe darzustellen und damit die Emendation überprüfbar zu machen, was im dringlichen Duktus Sattlers immer ein bißchen wie Emanation klingt, dem Ausfluß aller Dinge aus dem göttlichen Einen.
    Die Faksimiles enthalten, weil von den Manuskripten auch diejenigen Rückseiten abgebildet sind, die Hölderlin nicht beschrieben hat, manchmal nur ein paar Tintenflekken – oder nichts. Andere sehen aus wie abstrakte Gemälde. Daß Hölderlins Schrift für keinen Laien zu entziffern ist – gut. Aber auch die Transkription, die auf der jeweils gegenüberliegenden Seite steht, läßt sich nicht im herkömmlichen Sinne lesen, ahmt sie doch sämtliche Korrekturen, Ergänzungen, Streichungen nach, die Hölderlin an seinen Texten vornahm. Auf den ersten Blick könnte man die linearen Textdarstellungen für Computerlinguistik halten. Manche Blätter hat Hölderlin umgedreht, um in die Lücken ein zweites, drittes Gedicht hineinzuschreiben, oder er hat freie Stellen an den Rändern genutzt, weil das Papier knapp war, so daß man auch bei der Lektüre ihrer Transkription das schwere Buch umdrehen muß. Die Buchstabenreihen verlaufen buchstäblich kreuz und quer.
    Man kann mir den guten Willen bestimmt nicht absprechen, und doch ist es mir nicht gelungen, wenigstens das System vollständig zu durchschauen, mit dem man, ich will gar nicht sagen: lesen, mit dem man die Frankfurter Ausgabe benutzen kann. Zum Beispiel das Gedicht Patmos : Sechs Einträge muß man nachschlagen, und dann fehlen noch zwölf Stellen, die man im chronologischen Register aufstöbern muß, wo sie natürlich nicht nacheinander stehen. Reinschriften, sofern Hölderlin sie angefertigt hat, unterschlägt Sattler nicht, doch hebt er sie auch nicht hervor. Ein Halbsatz hat den gleichen Rang wie die 226 Verse des Patmos in der Abschrift Sinclairs. Man kann überall aufschlagen, weil es nirgends endet. Darin, daß die Sätze, manchmal die Wörter zersprungen sind, wirklich so, wie Glas zerspringt, ist ihre Heiligkeit bewahrt, die uns niemals als Ganzes, Authentisches, nur in Splittern und ungefähren Überlieferungen zugänglich ist, wie ja auch Hagiographien seit jeher im Konjunktiv erzählt werden und im Passionsspiel die Darsteller selbst dann ein Textblatt in der Hand hielten, wenn sie den Text auswendig beherrschten. Die Beschäftigung, wenn sie nicht Studium ist, springt ins andere Extrem, in die Versenkung: hier ein Vers, dort eine Silbe, zwischendurch ein ganzes Gedicht, das auf der nächsten Seite schon wieder aufgehoben wird. Es könnte kein anderer Text sein, der so gebrochen ist, denn es sind die Einzelteile, nicht ihre Ordnung, die ihn ausmachen, nur ist ihnen eigen, daß sie niemals heil werden können, es nie waren, wie die Faksimiles belegen. Die Transkription der Handschriften macht den Leser zum Editor, der sich ständig zwischen Lesarten entscheiden und Zusammenhänge herstellen muß, die sich zum Zufall hin öffnen.
    Natürlich besteht bei der Salbung, die Sattler noch den Hölderlinschen Fettflecken zukommen läßt, die Gefahr, daß Zeichen zu Ikonen werden, die nicht mehr benutzt, sondern angestarrt, wenn nicht angehimmelt werden. Im Persönlichen Bericht, der dem zwanzigsten Band vorangestellt ist, kritisiert Sattler selbst, daß sein Editionsmodell

Weitere Kostenlose Bücher