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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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aufzunehmen? Obwohl Nürtingen auf dem Weg lag, hat die Kutsche dort nicht einmal angehalten. »Da sich Hölderlin bei der Aufnahme in einem lebhaften Erregungszustand befand, so ist es höchst wahrscheinlich, daß man ihm auch die ›Autenriethsche Maske‹ angelegt hat«, heißt des in der Expertise des Psychiaters Dr. Lange. »Es war dies eine Maske, die der Leiter der Klinik, Autenrieth, gegen das Schreien erfunden hatte. Sie bestand aus Schuhsohlenleder und umfaßte unten mit einer Art von Boden das Kinn; dem Munde gegenüber befand sich auf der inneren Seite ein weich ausgepolsteter Wulst von feinem Leder. Je eine Öffnung war für Nase und beide Augen bestimmt. Mit zwei Riemen, die über und unter den Ohren von vorn nach hinten liefen, wurde die Maske am Hinterkopf befestigt, während ein dritter breiter Riemen, der durch lederne Bügel an den Seiten der Maske gehalten wurde, unter den Boden der Mundhöhle quer faßte und oben auf dem Scheitel zusammengeschnallt wurde. Dadurch war das zu weite Öffnen des Mundes verhindert; die Lippen drückte der Lederwulst von vorn gegeneinander. Damit der Kranke die Maske nicht mit den Händen herunterreißen konnte, wurden diese auf dem Rücken zusammengebunden.« 49 Der zwölfte und letzte Band der Leseausgabe beginnt mit den Rezeptbüchern der Authentriethschen Klinik. In einer Notiz Hölderlins heißt es
     
    Ich verstand die Stille des Aethers
    Der Menschen Worte verstand ich nie. 50
     
    Anders als der Romanschreiber lese ich Hölderlins Gedichte meist in der handlichen Ausgabe von Jochen Schmidt im Deutschen Klassiker Verlag. Aber wie der Romanschreiber bin ich in der festen Absicht, ihn verwerten zu wollen, wenn jemand ihn druckt, an den Anfang des Romans zurückgekehrt, den ich schreibe, und wende jedes Wort um. Vieles streiche ich, noch mehr ersetze ich, schiebe Absätze hin und her, prüfe die Motive auf ihre Ergiebigkeit, entwickle sogar im Rahmen des Möglichen Abläufe und Spannungsbögen, wenn schon nicht Handlungen, taste nach einer Form, die die Alltagsdiktion der ersten Fassung aufhebt, ohne sie unkenntlich zu machen, weiche von der Wirklichkeit ab, wo immer es der Literatur nützt, lese mir die Absätze laut vor, achte auf Melodie und Rhythmus, kurz: betreibe mein übliches utilitaristisches Geschäft. In dem Tempo, das ich im Augenblick habe, brauche ich für die Bearbeitung mehr Zeit als für das Schreiben selbst. Ein Verlag hatte mich aufgegeben, ein anderer Verlag mir vorgeschlagen, fürs erste den Roman im Roman zu veröffentlichen, bevor ich im vergangenen Herbst einen Verleger fand, der mir bis hin zu den Namenslisten für alle Absätze einen Vertrag anbot. Den Erscheinungstermin des Romans, den ich schreibe, werde ich allerdings kaum einhalten können.
     
    Dien’ im Orkus, wem es gefällt! wir, welche die stille Liebe bildete, wir suchen zu Göttern die Bahn. 51
     
    Ich danke Isaak Dentler vom Schauspiel Frankfurt, der seine Stimme heute und an den kommenden Dienstagen Friedrich Hölderlin leiht. Ich danke KD Wolff und Alexander Losse vom Stroemfeld Verlag, daß sie mir die Ehre gegeben haben, zur heutigen Vorlesung zu kommen und auszuharren, obwohl sie, wie ich weiß, nicht allen meinen Leseeindrücken zustimmen. Und ich danke Ihnen, meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer, für Ihre Aufmerksamkeit und würde mich freuen, Sie am kommenden Dienstag wiederzusehen, wenn ich, so Gott will, darüber sprechen werde, was Jean Paul und Hölderlin in dem Roman verbindet, den ich schreibe.

3. Vorlesung (25. Mai 2010)

 
     
    Meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer,
     
    warum Hölderlin und Jean Paul? Beide wurden nicht weit voneinander entfernt, nur durch ein paar Jahre getrennt in protestantischen Pfarrhäusern geboren, beiden starb der Vater früh, beide waren für das Kirchenamt vorgesehen, studierten zunächst Theologie, waren und mehr noch: wurden auf je verschiedene Weise dezidiert christliche Dichter, ohne kirchlichen Lehrmeinungen zu genügen, beide verfaßten ihre bedeutendsten Werke und hatten zu Lebzeiten ihre größte Bekanntschaft im selben Jahrzehnt vor und nach der Wende zum neunzehnten Jahrhundert, beide bezogen sich auf Herder und Fichte, beide besuchten Goethe und Schiller, die sich über beide abfällig äußerten, immer wieder hätten sich ihre Wege beinah gekreuzt, in Frankfurt, in Jena, in Heidelberg oder schon früh im fränkischen Waltershausen, wo Hölderlin bis 1795 als Hofmeister der Familie Charlotte von Kalbs

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