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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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arbeitete, die wiederum 1796 zur Förderin und Freundin Jean Pauls wurde, und noch ihre Wiederentdeckung geschah zur selben Zeit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im selben Kreis um Stefan George – man könnte es Zufall nennen, daß sie sich offenbar nie begegneten, oder bezeichnend, daß sich keiner von beiden, soweit ich sehe, je über den anderen äußerte. Nur eine Stelle in der Vorschule der Ästhetik ist mir aufgefallen, und die könnte despektierlicher kaum sein, wenn nämlich Jean Paul von den Dichterzwergen spricht, die ihre Kleinheit hinter der Höhe ihres Stoffs verstekken,
     
    da große Gegenstände schon sogar in der Wirklichkeit den Zuschauer poetisch anregen – daher Jünglinge gern mit Italien, Griechenland, Ermordungen, Helden, Unsterblichkeit, fürchterlichem Jammer und dergleichen anfangen, wie Schauspieler mit Tyrannen. 1
     
    Ob damit auch Hölderlin gemeint ist oder nicht, so bestätigt jedenfalls ein Brief der gemeinsamen Gönnerin Charlotte von Kalb vom 28. Januar 1806 Jean Pauls Desinteresse: »Ich las vor einigen Tage die Briefe von Hölderlin wieder, die drei, so ich mir aufbewahrte. Einst gab ich sie Ihnen zu lesen, Sie haben sie nicht geachtet, wie ich meine.« 2 Warum sollte ich auch, wird sich Jean Paul gedacht haben, könnten seine eigene Sprache, Motivwelt und Poetik kaum unterschiedlicher, ja gegensätzlicher sein. Dort Hölderlin, für den die Begeisterung nicht bloß ein notwendiger Zustand des Dichtens im Sinne Platons, sondern zum Gegenstand der Dichtung selbst wird, zu ihrem gleichsam substanzlosen Wesen.
     
    O Begeisterung! so finden
    Wir in dir ein seelig Grab,
    Tief in deine Wooge schwinden,
    Stillfrohlokkend, wir hinab,
    Bis der Hore Ruf wir hören
    Und mit neuem Stolz erwacht,
    Wie die Sterne, wiederkehren
    In des Lebens kurze Nacht. 3
     
    Hier Jean Paul, dem eine solcher Enthusiasmus als Selbstzweck vollkommen leer erscheinen muß, da er gerade zu der Zeit, als ihn der Brief Charlotte von Kalbs erreicht, in der Vorschule der Ästhetik die Besonnenheit als erste Eigenschaft des Genies hervorhebt:
     
    Keine Hand kann den poetischen, lyrischen Pinsel fest halten und führen, in welcher der Fieberpuls der Leidenschaft schlägt. 4
     
    Was Charlotte von Kalb weiter über Hölderlin schreibt, dürfte Jean Paul daher allenfalls menschlich angerührt haben: »Dieser Mann ist jetzo wütend wahnsinnig; dennoch hat sein Geist eine Höhe erstiegen, die nur ein Seher, ein von Gott belebter haben kann.« 5 Obwohl er es nicht einmal beabsichtigt zu haben scheint, liest sich Jean Pauls Vorschule wie ein Gegenprogramm zur Dramen- und Dichtungstheorie, die Hölderlin im Allgemeinen Grund zum Empedokles entwickelt. Ist etwa für Jean Paul Dichtkunst wie alles Göttliche im Menschen »an Zeit und Ort gekettet und muß [sie] immer ein Zimmermanns-Sohn und ein Jude werden«, 6 so wählt der Dichter für Hölderlin »eine andere Welt, fremde Begebenheiten, fremde Karaktere«, um in den »künstlichen fremden Stoffe« seine »Totalempfindung« 7 hineinzutragen. Aber mit dieser Empfindung ist ja nicht Zahnschmerz gemeint, wie es bei Jean Paul vorkommen kann, eine Unpäßlichkeit, eine unangenehme Rezension oder einfach nur Schlechtwetter, das sich als Stimmung oder ausdrücklich als schlechte Laune in das jeweilige Kapitel überträgt. Nicht einmal das eigene Herzweh ist bei Hölderlin gemeint. Bis zur Selbstverleugnung, der Negation des empirischen Ichs, die sich den üblichen psychologischen Rückschlüssen vom Werk auf den Autor widersetzt, bemüht sich Hölderlin, das Drama des eigenen Lebens aus der Dichtung auszuscheiden, es gleichsam poetisch in Luft aufzulösen und allenfalls atmosphärisch in seine mythische Gegenwelt aufsteigen zu lassen, während für Jean Paul stets die Wirklichkeit »der Despot und unfehlbare Papst des Glaubens« 8 bleibt:
     
    Auch der Urin gibt einen Regenbogen. 9
     
    Wo Hölderlin Liebe, Sünde, Unsterblichkeit beschwört ,da beschreibt Jean Paul bis in die Nervenspannungen, Hautirritationen, Herzschläge und den Duft der Schweißausbrüche, wie es sich anfühlt, zu lieben, zu fehlen und sich vor dem Tod zu fürchten. Unterhalten sich bei Hölderlin die Menschen wie auf Wolken, seufzt Jean Paul, daß jedermann bei Gelegenheit ein ordentliches Gespräch mit Nebenmenschen zu führen imstande und gleichwohl nichts seltener sei »als ein Schriftsteller, der einen lebendigen Dialog schreiben kann«. 10 Ein lebendiger Dialog im Sinne Jean Pauls wäre für

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