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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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möglich gewesen, ich hätte seither sicher alle Wochen wenigstens einmal geschrieben. 39
     
    versichert er im September 1800 der Schwester, die nicht so dumm sein kann, dem Schein bürgerlichen Lebens und Anstands zu glauben, den seine Briefe noch immer zu produzieren versuchen, und da ist er bereits mit gestrecktem Bein überm Abgrund, Brust raus, Bauch rein wie auf dem Paradeplatz. Nicht mehr nur öd, kaum erträglich ist die Beseeltheit, die er in die Gedichte legt:
     
    Denn voll göttlichen Sinns ist alles Leben geworden,
    Und vollendend, wie sonst, erscheinst du wieder den Kindern
    Überall, o Natur! und, wie vom Quellengebirg, rinnt
    Seegen von da und dort in die keimende Seele dem Volke. 40
     
    »O Freuden Athens, o Thaten in Sparta«, köstlich ist die Frühlingszeit im Griechenlande. Nur ein Gedicht danach, noch im gleichen September 1800 mit dem Entwurf der »Elegie«, hebt Hölderlins Poesie plötzlich ins zwanzigste Jahrhundert ab
     
    Tage kommen und gehen, ein Jahr verdränget das andere,
    Wechselnd und streitend; so tost furchtbar vorüber die Zeit
    Über sterblichem Haupt, doch nicht vor seeligen Augen,
    Und den Liebenden ist anderes Leben gewährt.
     
    und kehrt Hölderlin zugleich ins siebte persische Jahrhundert nach der Hidschra zurück:
     
    Ach! wo bist du, Liebende, nun? Sie haben mein Auge
    Mir genommen, mein Herz hab’ ich verloren mit ihr.
    Darum irr’ ich umher, und wohl, wie die Schatten, so muß ich
    leben und sinnlos dünkt lange das Übrige mir.
    Danken möchte’ ich, aber wofür? verzehret das Lezte
    Selbst die Erinnerung nicht? nimmt von der Lippe denn nicht
    Bessere Rede mir der Schmerz, und lähmet ein Fluch nicht
    Mir die Sehnen und wirft, wo ich beginne, mich weg?
     
    Mag der Rausch des Romanschreibers, der wegen seines vergangene Woche bereits eingeführten Rückenleidens auf Opiate angewiesen ist, nicht nur lyrische Gründe haben, ich glaube für mich sagen zu können, daß mir die deutsche Sprache nirgends hinreißender, beseelter erscheint als in der Elegie, die einen Entwurf später »Menons Klage um Diotima« heißt, weil es das Wort eines Hinterbliebenen ist, die Vergegenwärtigung einer Dahingeschiedenen, das Bewahren eines notwendig Flüchtigen. Das ach! klingt hier zum ersten und vielleicht einzigen Mal in der deutschen Sprache wie das ay! bei den spanischen Dichtern, oder das ey! von Hafis und Rumi:
     
    So zerrann mein Leben, ach! so ists anders geworden,
    Seit o Lieb, wir einst giengen am ruhigen Strom. 41
     
    Längst ist die Wirkung des Rauschmittels vergangen, da liest des Romanschreiber weiterhin das Gedicht in seinen sehr unterschiedlichen Varianten, das mit ruhig berückendem Rhythmus, fremder, traurigster Melodie einen ganz anderen, nicht mehr den hohen hölderlinschen Ton hat, der ihn enervierte, so unmittelbar, so direkt, als säße jemand vor ihm und sänge leise, was ihn bedrängt, was er fürchtet, wo er beharrt, hat endlich genug von »Thaten in Sparta«, will nicht mehr nach Athen wandern, spricht es aus in den einfachsten Worten, die ihm jedoch, weil er ein Dichter ist, für immer ein Dichter, zum rätselhaften, verzaubernden Gesang geraten, der viel mehr enthält als diese oder jene, seine oder meine Sehnsucht, nämlich alle Sehnsucht des Menschen mit der Schwerkraft von Sachzwängen, Vernunfterwägungen, Mutlosigkeit, aber Augen in Richtung des Himmels, den er ein paar Tage lang in Suzette Gontard fand, die Länge eines Fingers, einer Zunge, seines Geschlechts tief, um genau zu sein, als sie »fühlten den eigenen Gott / ... Ganz in Frieden mit uns kindlich und freudig allein«. 42
    Der letzte Brief von ihr oder an sie war vom Mai, glaube ich, Mai 1800. Im September müßte er längst fortgelaufen oder vertrieben worden sein, je nachdem, wie er es an einem Tag gerade empfindet. Er ist es schon. Hat sich in Kindersprache verabschiedet von seiner Liebe, mit versteckten Zettelchen und husch husch husch ich steh im Gebüsch wo ist sie denn wieso sieht sie mich nicht? Wo ist er überhaupt? Noch in Stuttgart? Bei wem?
     
    Daß ich fühlos size den Tag, und stumm, wie die Kinder, Nur vom Auge mir kalt öfters die Thräne noch schleicht. 43
     
    – das ist Friedrich Hölderlin Ende September 1800, nicht der Dichter, der nichts vom Leben wissen wollte in seiner Dichtung.
     
    Soll es werden auch mir, wie den Tausenden, die in den Tagen
    Ihres Frühlings doch auch ahndend und liebend gelebt,
    Aber am trunkenen Tag von den rächenden Parzen

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