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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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ergriffen,
    Ohne Klag’ und Gesang heimlich hinuntergeführt
    Dort im allzunüchternen Reich, dort büßen im Dunkeln,
    Wo bei trügrischem Schein irres Gewimmel sich treibt,
    Wo die langsame Zeit bei Frost und Dürre sie zählen,
    Nur in Seufzern der Mensch noch die Unsterblichkeit preist? 44
     
    Ab Oktober entstehen Elegien in je mehreren Varianten, acht Stück schließlich in der Stuttgarter Reinfassung vom 11. Dezember 1800, sechs in der Reinschrift, die 21 Jahre später Prinzessin Auguste erstellt, die ihm wie andere Frauen halb anbetend, halb mitleidig verfällt. Der Schlußsatz des »Blinden Sänger«, das zunächst »Täglich Gebet« hieß, bleibt in allen Fassungen gleich:
     
    O nimmt, daß ichs ertrage mir das
    Leben, das göttliche, mir von Herzen. 45
     
    Anhand der vollständigen Dokumentation, die in die Gedichtfragmente eingewoben ist, zu verfolgen, wie Hölderlins Dichtung fliegt und er selbst stürzt, um die zweite Lebenshälfte in der Umnachtung des Tübinger Turms zu verbringen, die gleichwohl noch einige der hellsichtigsten Verse deutscher Sprache hervorgebracht hat, ist schauderhaft. Selbst der Mutter, die ihm und allen gegenüber bislang immer so steif war, explodieren in den Briefen plötzlich die Gefühle. Geld will sie ihm ungefragt schicken, der sonst jeder Groschen zu viel war. Dennoch hat sie in den verbliebenen vierzig Jahren ihren Sohn nicht ein einziges Mal besucht, obwohl es von Nürtingen nicht mehr als 28 Kilometer sind, ihm in den zehn Jahren bis 1812 nur einziges Mal geschrieben. Bei Sinclair ist es ähnlich. Erst reibt er sich auf für den Freund, holt ihn zu sich, übernimmt alle Ausgaben, zahlt ihm monatlich sogar Geld aus, ein Gehalt für nichts, und dann, zack, fordert er die Mutter auf, Hölderlin wegschaffen zu lassen. Es gebe da kompetente Anstalten (wo sie dem Patienten die Seele zertrümmern, wie es Hölderlin geschah), wird er sich beruhigt haben, wie man sich eben beruhigt, wenn es einen richtig tangieren könnte. Die Rezensenten vergießen nur noch Hohn und Spott, »abgeschmackt«, heißt es oder »höchst lächerlich«, 46 »Nonsens mit Prätention gepaart.« 47 Schiller und Goethe rezitieren seine Sophokles-Übersetzung als ein Witzblatt, wie Heinrich Voß sich zu berichten beeilt, »Du hättest Schiller sehen sollen, wie er lachte«. 48
    In der gleichen Zeit oder unmittelbar davor entstehen die Verse oder arbeitete Hölderlin an ihnen, die über allem stehen, die Elegien und späten Hymnen. Das ist ganz offenkundig. In den abgeschlossenen Editionen und nicht nur als Bruchstücke gelesen, werden sie etwas heller, gerade so viel, daß man sicher ist, sie begreifen zu wollen. Zugleich ist das Bruchstückhafte und immer wieder neu Variierte ihnen wesentlich und kein Hinweis auf die beginnende Verwirrung. Nichts läßt sich mehr fixieren, nichts festlegen. Jede Strophe, die steht, löst sich bei der nächsten Lektüre wieder auf, für Hölderlin wie für den Romanschreiber, der über den immerneuen Varianten einzelner Zeilen gänzlich durcheinander gerät. Der nach vorne stürmende, dahinrauschende Rhythmus bricht in den Elegien und späten Hymnen ab, die Melodie hält ein, die Sprache berührt gleichsam nur noch auf Zehenspitzen den Boden, als sei jedes Wort eines zuviel, nur so, als würde man markieren, was eigentlich gesagt werden müßte, aber nicht mehr zu sagen ist, die Sinnzusammenhänge bis in die Grammatik so ineinander verschlungen, auch rhythmisch so unregelmäßig, so pochend und atmend und eilend und anhaltend, daß man jeden einzelnen Satzteil mit der Pinzette rauszupfen müßte und immer noch nicht den Eindruck hätte, dem eigentlichen Geheimnis auf die Spur gekommen zu sein. Vielleicht übersah Hölderlin selbst nicht mehr, was er notierte, nicht weil sein Geist schon beschränkt gewesen wäre, sondern aufgrund der Beschränktheiten des Geistes als solchen. Er weiß genau, daß es etwas bedeutet, deshalb setzt er immer wieder neu an, ohne je an ein Ende, an einen letztgültigen Text zu gelangen. Er ist wie jemand, der eine Sprache spricht, die er selbst nicht versteht. Ein Zeichen sind wir, deutungslos.
    Die Mutter bat brieflich irgendwen in Homburg, vielleicht den Sattlermeister oder den Hofweißbindermeister, den Sohn nach Tübingen zu verbringen. Warum hat sie ihn nicht selbst abgeholt, warum hat sie nicht seine Schwester Rike oder seinen Bruder Karl gebeten? Warum hat sie ihn überhaupt in Tübingen wegsperren lassen, statt ihn bei sich

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